Erzaehlungen
immer noch raffinierterer Eleganz auszustatten imstande ist, die Zeit, die er noch in Stilfs ist, überbrückt, die paar Stunden, bis er wieder fort ist. Es ist, denke ich, ihn beobachtend, seine Gewohnheit, Gedanken, die ihn beschäftigen, mit ab und zu laut ausgesprochenen Wörtern, die diese Gedanken betreffen, woraus auf eine genaue Verteilung der Gewichte in seinen Gedanken zu schließen ist, an sich in seinem Gehirn zu befestigen. Während er den ganzen Abend über die verschiedensten Themen gesprochen, über eine Menge Neuigkeiten in England und in ganz Europa phantasiert, improvisiert hat, bemerkte ich aber doch nur ein einziges Interesse an ihm: wie es ihm möglich sei, das, was sich sein Gehirn im Laufe von nun schon beinahe drei Jahrzehnten angeeignet und in seinem Gehirn in demselben Zeitraum auf das entschiedenste aufgestaut hat, für ein Werk seiner ganz eigenen Natur zu mißbrauchen, nichts anderes denkt er seit Jahren, als: das, was in seinem ihm von der Natur zu einem ungeheuern Ideenarsenal schon im Überfluß ist, durch ein Werk aus Schwarz auf Weiß auch der Außenwelt, also der Welt außerhalb seines Kopfes, zu bestätigen. Nicht ohne Bedeutung ist, daß er, wahrscheinlich ohne daß ihm selbst dieser Umstand bekannt ist, oft das Wort Verwirklichung ausspricht und beinahe alles, was er sagt, von dem Begriff der Realisierung handelt. Da geht er, der gewohnheitsmäßig einmal im Jahr das Grab seiner Schwester aufsucht. Er selbst sagt, er empfindet am Grab seiner Schwester nichts, ihr Gesicht sei für ihn nicht mehr möglich, er könne sich seine Schwester schon lange Zeit überhaupt nicht mehr vorstellen, wenn er an dem Grab stehe, empfände er nur diePeinlichkeit jeden Gräberbesuches, Abscheu vor sich selbst, Verachtung gegen sich selbst steige dann in ihm auf. Der Totenkult sei eine Unappetitlichkeit, widerwärtiger als jede andere. Es sei aber auch wahrscheinlich schon längst nicht mehr die tote Schwester, die in nichts mehr in ihm vorhandene, die ihn alljährlich nach Stilfs kommen lasse, diese Tote, zu der er auch zu ihren Lebzeiten keinerlei enge Beziehung gehabt habe. Die Schwester sei es nicht, Stilfs sei es, während es bis jetzt nicht Stilfs, sondern die tote Schwester gewesen sei. Die Schwester, »das Nichts unter der Grabsteinplatte« (Midland), sei ihm zu ihren Lebzeiten immer als ein ihm vollkommen fremder Mensch erschienen, er habe sie nie geliebt, geschweige denn hatte er Zuneigung zu ihr gehabt, plötzlich bei ihrem Tode, als das Unglück geschehen war, und allein daran erinnert er sich noch, auch nicht mehr an die Tote selbst, sondern nur noch an die Umstände, die zu ihrem Tod geführt haben, an den Felsvorsprung usf., an die tosende Alz, plötzlich nach ihrem Tode, war er von Schuld gepeinigt gewesen. Er habe sich, solange seine Schwester, so drückte er sich aus, neben ihm gelebt hat, wenig, ja gar nicht um sie gekümmert. Ein Wesen ganz ohne Inhalt für ihn, sei sie ihm immer als ein Mensch, der ihn überhaupt nichts anging, erschienen. Jetzt sei aus dieser Schuld selbst eine Gewohnheit geworden. Nicht die Schwester ist es, die ihn nach Stilfs kommen läßt, Stilfs ist es. Wir seien es. Er komme nach Stilfs. Er freue sich. Midland, denke ich, der von der guten Laune immer nur so weit weg ist, daß er jederzeit wieder in sie hineingehen kann, nicht wie wir, die wir uns die gute Laune, ja den von ihm so genannten Lebenseifer, auf keinen Fall mehr gestatten. Ich habe den Engländer oft lachen gesehen und ist er nicht in Stilfs, sondern in England oder noch weiter von Stilfs entfernt, und ich sehe ihn in meinem Gedächtnis, wie das oft in verzweifelten Augenblicken der Fall ist, seh ich ihn lachend. Sein Vater sei nur »ein witziger Mensch« gewesen, seine Mutter »eine böse Verfälschung der wunderbaren Natur«.Überraschungskunst. Keine Müdigkeit, obwohl er doch über einen einzigen Tag aus Neapel gekommen war, voller Reiseeindrücke, mit welchen er, ein Mensch, der in ihm Aufgestautes unter keinen Umständen länger als die kürzeste Zeit zurückhalten kann, sofort und immer noch pedantischer bis fünf Uhr früh auf uns zukam. Es ist ihm oft alles das reinste Vergnügen, was uns niemals auch nur erträglich sein kann. Zeitungen, Bücher liest er, die ältesten wie die neuesten mit der größten Aufmerksamkeit, wodurch sein Gesprächsstoff so interessant ist. Er wird nicht müde, die sich ununterbrochen verändernde Welt zu studieren und indem er sie studiert, kritisiert er
Weitere Kostenlose Bücher