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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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Anna! ... Und ich kann nicht bei dir sein! Gerade ich nicht, ich, der einzige, der zu dir gehört ... Vielleicht ist sie gar nicht bewußtlos! Was wissen wir denn überhaupt davon! Und sie sehnt sich nach mir, – und ich kann nicht hin – darf nicht hin. Oder vielleicht, im letzten Augenblick, wenn sie von allen irdischen Rücksichten sich löst, wird sie es sagen, wird flüstern: Ruft ihn mir – ich will ihn noch einmal sehen ... Und was wird
er
tun? ...
    Nach einer Weile stand ihm der ganze Vorgang vor den Augen. Er sah sich die Treppe hinaufeilen, der Mann empfing ihn, führte ihn selbst zum Bette der Sterbenden, die lächelte ihn an mit brechenden Augen, – er beugte sich zu ihr, sie umarmte ihn, und wie er sich erhob, hatte sie den letzten Atemzug getan – ... Und jetzt trat der Mann hinzu und sagte ihm: Nun gehen Sie wieder, mein Herr, wir werden einander wohl bald mehr zu sagen haben ... Aber so ist das Leben nicht, nein ... Das wäre ja das Schönste, das Allerschönste; sie noch einmal sehen, fühlen, daß er von ihr geliebt wird! – Er mußte sie ja noch einmal sehen, auf irgend eine Weise ... ja, er konnte sie doch um Himmels willen nicht sterben lassen, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Das wäre zu entsetzlich! Er hatte es ja noch gar nicht recht ausgedacht. Ja, aber was tun? Es war bald Mitternacht! Unter welchem Vorwand könnte ich jetzt hinauf, fragte er sich. Brauch' ich denn jetzt einen Vorwand ... jetzt, da der Tod ... Aber selbst wenn sie ... stirbt – habe ich ein Recht,
ihr
Geheimnis zu verraten, ihr Gedächtnis bei ihrem Manne, bei ihrer Familie zu beflecken – –? ... Aber ... ich könnte mich ja wahnsinnig stellen. Ah – ich kann mich ja ganz gut verstellen ... o Gott – was ist das wieder für ein Komödieneinfall! ... Allerdings, wenn man die Rolle gut durchführte und gleich fürs ganze Leben ins Narrenhaus gesperrt würde ... Oder wenn sie gesund würde und sie selbst mich dann für einen Wahnsinnigen erklärte, den sie nie gekannt, nie gesehen habe –! ... – Oh, mein Kopf, mein Kopf! – Er warf sich aufs Bett. Jetzt kam er zum Bewußtsein der Nacht und der Stille, die um ihn war. – Nun, sagte er sich, will ich in Ruhe nachdenken. Ich will sie noch einmal sehen ... ja, jedenfalls ... das steht fest.
    Und weiter wirbelten seine Gedanken: in hundert Verkleidungen sah er sich die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufsteigen: als Assistent des Professors, als Apothekergehilfe, als Lakai, als Beamter einer Bestattungsgesellschaft, als Bettler; zuletzt sah er sich gar als Leichendiener neben der Toten sitzen, die er nicht kennen durfte, hüllte sie in das weiße Tuch und legte sie in den Sarg ...
    Er wachte in der Morgendämmerung auf. Das Fenster war offen gewesen, und obwohl er angekleidet auf dem Bette gelegen war, fröstelte ihn, da ein leichter Regen begonnen und der Wind ein paar Tropfen bis ins Zimmer streute. –
    Also der Herbst ist da, dachte Albert ... Dann erhob er sich und schaute auf die Uhr. – So hab ich doch fünf Stunden fest geschlafen. – In dieser Zeit kann ... viel geschehen sein. – Er schauerte zusammen. – Sonderbar, ich weiß plötzlich ganz genau, was ich zu tun habe. Ich werde jetzt hingehen, bis vor die Wohnungstür, den Kragen heraufgeschlagen, und ... selbst ... fragen ...
    Er schenkte sich ein Glas Kognak ein, das er rasch austrank. Dann ging er zum Fenster. Pfui, wie die Straßen aussehen. Sehr früh ist's noch .... Das sind lauter Menschen, die schon um sieben Uhr zu tun haben. – – Ja, heute bin ich auch ein Mensch, der schon um sieben zu tun hat. – – »Recht schlimm,« hat der Doktor gestern gesagt ... Aber daran ist noch niemand gestorben ... Und ich hatte doch gestern ununterbrochen die Empfindung, als wenn sie schon ... geh'n wir, geh'n wir ... Er zog sich den Überzieher an, nahm einen Regenschirm und trat ins Vorzimmer. Sein Diener machte ein erstauntes Gesicht. Ich komme bald wieder, sagte er und ging. –
    Er machte kleine, langsame Schritte; es war ihm eigentlich sehr peinlich, selbst hinaufzugehen. Was sollte er nur sagen?
    – Er kam immer näher; schon war er in der Straße, sah von ferne das Haus. Es schien ihm so fremd. Zu solcher Stunde hatte er es freilich nie gesehen. Wie sonderbar doch diese fahlen Lichter waren, die der Regenmorgen über die Stadt breitete. Ja, an solchen Tagen stirbt man. – Wenn Anna an jenem Tage, da sie das letztemal bei ihm war, einfach von ihm Abschied genommen hätte, er hätte sie heute

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