Erzaehlungen
vielleicht schon vergessen gehabt. Ja, ganz gewiß – denn es war ganz unheimlich, wie lang es ihm er schien, daß er sie das letzte Mal gesehen. Was so ein Regenmorgen für falsche Begriffe von der Zeit schafft ... ach Gott ... Albert war sehr müde, sehr zerstreut .... Fast wäre er an dem Hause vorübergegangen.
Das Tor war offen; gerade kam ihm ein Bursch mit Milchkannen in der Hand daraus entgegen. Albert ging sehr ruhig die paar Schritte durch den Torweg – plötzlich, wie er die ersten Stufen der Treppe betreten wollte, durchzuckte ihn das volle Bewußtsein von allem, was geschehen war, was jetzt geschah, was er erfahren wollte. Es war ihm, als hätte er den Weg bis hierher noch im Halbschlaf zurückgelegt und wachte nun jählings auf. Er faßte mit beiden Händen nach seinem Herzen, bevor er weiterschritt. Das also war die Treppe ... er hatte sie ja früher nie gesehen. Sie lag noch im Halbdunkel; kleine Gasflämmchen brannten an der Wand ... Hier im ersten Stock war die Wohnung. Was war das? ... Beide Türflügel standen offen. – Er konnte das Vorzimmer sehen – aber es war kein Mensch da. Er machte eine kleine Tür auf, die führte in die Küche. Auch da war niemand. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen. Jetzt öffnete sich die Tür, die zu den Wohnräumen führte, und ein Dienstmädchen kam leise heraus, ohne ihn zu bemerken. Albert trat auf sie zu.
»Wie geht's der gnädigen Frau?« fragte er.
– Das Mädchen schaute ihn gedankenlos an.
»– Vor einer halben Stunde ist sie gestorben,« sage sie. Damit wandte sie sich um und ging in die Küche.
Albert hatte die Empfindung, als wenn die Welt um ihn plötzlich totenstille würde; er wußte ganz bestimmt, daß in diesem Moment alle Herzen zu schlagen, alle Menschen zu gehen, alle Wagen zu fahren, alle Uhren zu ticken aufhörten. Er spürte, wie die ganze lebende, sich bewegende Welt innehielt, zu leben und sich zu bewegen. Also das ist der Tod, dachte er ... Ich hab' es gestern doch nicht verstanden ...
Entschuldigen Sie, sagte eine Stimme neben ihm; es war ein schwarzgekleideter Herr, der von der Treppe aus ins Vorzimmer treten wollte, und den Albert, der gerade in der Tür stand, daran hinderte. Albert trat einen Schritt weiter hinein und ließ den Herrn vorbei. Dieser kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern begab sich rasch in die Wohnung und ließ die Tür halb offen. Albert konnte nun in das nächste Zimmer sehen. Es war fast dunkel darin, da die Vorhänge niedergelassen waren; er sah ein paar Gestalten, die um einen Tisch saßen, sich erheben und den eintretenden Herrn begrüßen. Er hörte sie flüstern ... Dann verschwanden sie in einem Nebenraum. Albert blieb an der Türe stehen und dachte: Da drin liegt sie ... Es ist noch keine Woche, daß ich sie in meinen Armen hielt ... Und ich darf nicht hinein. – Er hörte Stimmen auf der Treppe. Zwei Frauen kamen herauf und gingen an ihm vorbei. Die eine, jüngere, hatte verweinte Augen. Sie sah der Geliebten ähnlich. Es war gewiß ihre Schwester, von der sie ihm einigemal gesprochen. Eine ältere Dame kam den zwei Frauen entgegen, umarmte beide und schluchzte leise. »Vor einer halben Stunde,« sagte die alte Dame – »ganz plötzlich« ... Sie konnte vor Tränen nicht weiterreden; alle drei verschwanden durch das halbdunkle Zimmer in den Nebenraum. Niemand beachtete ihn.
Ich kann ja hier nicht stehen bleiben, dachte Albert. Ich will hinunter und werde nach einer Stunde wiederkommen. – Er entfernte sich und war in ein paar Augenblicken auf der Straße. Das Getriebe des Morgens hatte begonnen; viele Leute hasteten an ihm vorüber, und die Wagen rollten.
Nach einer Stunde werden mehr Menschen oben sein, und ich kann mich ganz leicht unter sie mischen. Wie doch Gewißheit tröstet ... Es ist mir wohler als gestern; obzwar sie gestorben ist ... Vor einer halben Stunde ... In tausend Jahren wird sie dem Leben nicht ferner sein als jetzt ... und doch, das Bewußtsein, daß sie vor einer Stunde noch geatmet hat, gibt mir den Eindruck, als wenn sie jetzt noch irgend etwas vom Dasein wissen müßte; irgendwas, das man nicht ahnt, solange man noch atmet ... vielleicht ist der unfaßbare Augenblick, in dem wir vom Leben zum Tode übergehen, unsere arme Ewigkeit ... Ja, nun ist es auch aus mit dem Warten am Nachmittag ... Ich werde nicht mehr am Guckfenster stehen – nie mehr, nie mehr ... – Diese Stunden traten ihm nun wieder in unsäglicher Schönheit vor Augen. Vor wenigen Tagen noch
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