Erzaehlungen
fühlen, daß das Leben für ihn noch nicht zu Ende war. Von jetzt an verbrachte er nachmittags, wenn er aus dem Büro nach Hause kam, ganze Stunden am offenen Fenster. Er rückte sich einen Sessel hin, nahm ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen. Aber immer ließ er das Buch bald auf den Schoß sinken und sah ins Freie. Seine Wohnung lag im höchsten Stockwerk; wenn er so saß, war nur der blasse Himmel ihm gegenüber. In diesen letzten Märztagen wehte oft ein leiser Wind, der ihm vom Stadtpark den kühlen Duft der ersten Blüten herauftrug.
Am letzten Oktobertag des vergangenen Jahrs war seine Frau gestorben. Seitdem hatte er hingelebt wie ein Betäubter. Daß seine Frau jung dahingehen, daß sie ihn als noch jungen Mann allein auf der Erde zurücklassen könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. In den ersten Wochen nach ihrem Tod war ihr Vater noch manchmal aus der Vorstadt, wo er ein kleines Geschäft besaß, zu ihm hereingefahren, aber die Beziehungen zwischen ihm und dem alten Mann, die immer ganz lose gewesen, hörten bald ganz auf. Seine eigenen Eltern waren früh gestorben. Sie hatten in einem kleinen Ort fern der Hauptstadt gewohnt, den er noch als Knabe verlassen, um das Gymnasium in Wien zu besuchen. So kam es, daß er beinah seine ganze Jugend unter fremden Leuten verbringen mußte. Nach dem Tode seines Vaters, der Notar gewesen war, gab Gustav seine Gymnasialstudien auf, die er mit Fleiß, aber ohne Begabung bis zu seinem siebzehnten Jahre betrieben hatte. Er trat in ein Eisenbahnamt ein, das ihm von Anbeginn ein bescheideneres Einkommen und die Hoffnung auf ein langsames, aber sicheres Fortschreiten bot. Seine Jünglingszeit ging still dahin. Im Büro tat er seine Pflicht, und seine Vergnügungen waren spärlich. Er ging in jedem Monat einmal ins Theater, und jeden Samstag wohnte er einem geselligen Abend im Kreise der Bürokollegen bei. In seinem dreiundzwanzigsten Jahre verwirrte sich die Ruhe seines Lebens auf kurze Zeit. Eine junge Frau, die er auf einem Vergnügungsabend des Gesangvereins kennengelernt, wurde seine Geliebte. Er durchlebte manche Leiden der Eifersucht und einen heftigen Schmerz, als sie mit ihrem Gatten Wien verließ. Bald aber war er froh, daß jene Zeit der Aufregung vorüber war, und aufatmend kehrte er zu seiner früheren Lebensweise zurück.
Nach vier weiteren Jahren lernte er ein Mädchen kennen, das zuweilen die Familie besuchte, bei der er damals wohnte. Er wußte bald, daß er nie einem Wesen begegnen würde, das besser zu seiner Gattin taugte als dieses. Von seinen Hausleuten erfuhr er so viel über sie, als er wissen wollte. Sie war durch ein ganzes Jahr verlobt gewesen, ihr Bräutigam war gestorben, und seither schien eine stille Trauer über ihr ganzes Wesen gebreitet. Sie hatte die schlichte Bildung junger Mädchen aus den mittleren Bürgerkreisen und überdies ein ausgesprochenes musikalisches Talent. Man erzählte ihm, daß sie schöner singe als manche berühmte Sängerin. Es wurde ein Ehrgeiz für Gustav, die Lippen dieses jungen Mädchens wieder lächeln zu machen, und er dachte jetzt gern an jenes Abenteuer aus seiner ersten Jugend, um in dieser Erinnerung zu fühlen, daß er doch auch die Fähigkeit besäße, edlen Frauen etwas zu bedeuten. Er war sehr glücklich, als Therese das erstemal lächelte, während sie zu ihm sprach; an jenem Abend empfand er eine Art von Rausch, der ihn stolz machte, ohne daß er wußte, warum. Wenige Monate darauf wurde sie seine Frau, und ihm war, als begänne erst jetzt das Dasein für ihn. Das Bewußtsein, ein junges Wesen in den Armen zu halten, das noch keinem vor ihm gehört, erfüllte ihn mit Wonne. Anfangs fürchtete er, dieses reine Geschöpf durch die Glut seiner Zärtlichkeiten zu entweihen, aber als sie sich ihm bald mit der gleichen Rückhaltlosigkeit entgegenbrachte, gab er sich seinem Glücke völlig hin. Da ihre Ehe kinderlos blieb, änderten sich die Beziehungen zwischen ihnen durch viele Jahre gar nicht. Sein Haus war für ihn zugleich die Stätte des Friedens und der Freude. Von seinen früheren Bekannten zog er sich zurück. Nur wenige Leute besuchten das junge Paar, und diese nur selten: Theresens Vater und eine ihrer Freundinnen, ein verblühendes Mädchen, das für Gustav nur dadurch eine gewisse Bedeutung hatte, daß sie Therese zuweilen zum Singen begleitete. Häufig aber sang Therese ganz allein, und das war ihm das liebste. In ihrer Stimme erklang ihm ihre ganze aus Reinheit und Leidenschaftlichkeit
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