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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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Ungewisse innerhalb dieser Gewißheit war ein Reiz mehr. Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Volksgartens. Aus dem Garten tönte Musik, und in ihrem Klang schienen die Leute, die an Gustav vorübergingen, sich zu wiegen. Er nahm den Hut ab, legte ihn auf die Knie, und ihm war, als wenn er damit einen schweren Eisenring von seiner Stirn entfernt hätte. Jetzt schien ihm, als dürfte er darangehen, Pläne zu fassen. Er hatte die Empfindung, als wäre heut nachmittag um sechs Uhr seine Trauerzeit zu Ende gewesen, und er hatte nun auch andere Pflichten, andere Rechte als ein paar Stunden vorher. Dabei war er ganz ruhig, er hatte kaum einen Wunsch, nur das Gefühl der Beruhigung, daß sein Wunsch kein Verbrechen mehr und die Erfüllung leicht sei.
    Er saß schon lange Zeit auf der Bank, als er ein junges Paar neben sich erblickte, das eben erst gekommen sein mußte. Die beiden sprachen leise, aber er konnte doch mancherlei verstehen; es schien sich um ein Wiedersehen für den nächsten Tag zu handeln.
    Jetzt besann er sich, daß es auch notwendig sein werde, an das Wesen, dem er sich nähern wollte, Worte zu richten, und das schien ihm in diesem Augenblick so schwer, daß ihm eine Röte der Angst ins Gesicht stieg. Er überlegte, wie er mit irgendeiner Frau ein Gespräch beginnen sollte, und dachte sich aus, was er zu jeder einzelnen sagen würde. Es kam ein junges Mädchen vorbei mit einem kleinen Jungen. Da würde er sagen: »Guten Abend, Fräulein. Das ist aber ein reizender Bub! Gewiß der Herr Bruder?« Dabei mußte er selbst lachen, denn das war zweifellos ein guter Witz, einen kleinen Buben den »Herrn Bruder« zu nennen, und das junge Mädchen hätte sicher auch gelacht. Da war sie ja noch – zehn Schritt weit; aber er wagte es doch nicht. Jetzt kam eine ziemlich dicke Frau, die Noten in der Hand hielt. Die hätte er fragen können, ob er die Noten tragen dürfte. Dann kamen zwei ganz jungen Dinger, die eine hatte eine Schachtel in der Hand, die andere mit einem Sonnenschirm redete sehr geschwind und wichtig. Der hätte er sagen können: »Erzählen Sie mir doch auch etwas, Fräulein!« Aber das war doch zu frech. Nun kam eine junge Person, die sehr langsam ging und den Kopf hin und her wiegte, ganz für sich, als interessiere sie die übrige Welt nicht im geringsten. Wie sie an Gustav vorüberging, schaute sie ihn an und lächelte, als käme er ihr bekannt vor. Er stand auf, aber nicht, weil sie gelächelt – sondern weil sie in der Gestalt und insbesondere jetzt, wie er sie von rückwärts sah, eine so außerordentliche Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hatte, daß er beinahe erschrocken war. Ja, selbst die Frisur war die gleiche – auch solch einen Hut mußte seine Frau irgendeinmal getragen haben. Und je weiter sie sich von ihm entfernte, um so eher hätte er sich einbilden können, daß es die Gestorbene war. Er fürchtete sich davor, daß sie sich wieder umwenden könnte, denn die Züge selbst hatten keine Spur von Ähnlichkeit; nur der Gang, die Gestalt, die Haartracht, der Hut.
    Er folgte ihr nach. Was konnte sie sein? Er hatte nicht genug Erfahrung, um das genau abzuschätzen. In ihrem Lächeln war nichts Gemeines gelegen, kaum daß es sehr ermutigend gewesen wäre. Sie war etwa zehn Schritte vor ihm; er hielt sich immer in der gleichen Entfernung. Immer wenn sie an einer Laterne vorüberging, konnte er die Umrisse ihrer Gestalt am deutlichsten wahrnehmen, immer wieder von neuem glaubte er den Gang seiner verstorbenen Frau vor sich hinschweben zu sehen, und wie mit einer Lust am Wahnsinn versuchte er sich zu überreden, daß sie es wirklich wäre. Er sagte sich: Jetzt, in dieser Entfernung, wenn ich diese Gestalt ... diesen Gang ... diese Haartracht sehe – ist sie es. Wenn es Wunder gäbe und ich bekäme irgend etwas von ihr wieder, nur ihre Gestalt, nur ihren Gang – wäre ich da nicht glücklich? ... Sie schien nicht zu ahnen, daß ihr irgendwer folgte, schritt unbekümmert weiter. Der Weg führte sie am Stadtpark vorbei, sie hielt sich ganz nah am Gitter und glitt mit ihren Fingern über die Stäbe hin. Gustav zuckte zusammen. Er erinnerte sich, daß es eine Gewohnheit seiner Frau gewesen war, im Vorübergehen mit den Fingern über Wände, Mauern, Gitter zu gleiten. Es war ihm, als täte das Weib, das zehn Schritte vor ihm ging, mit Absicht dasselbe, und er wußte doch zugleich, daß diese Empfindung vollkommen sinnlos war. Und doch schien ihm von diesem Augenblicke an in jeder

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