Erzaehlungen
geringsten. Sie hat ein Gefühl des Verfügungsrechtes über ihre Person und ihre Zeit, wie nie zuvor. Sie schlendert gemächlich durch die Straßen, vergnügt sich damit, die Auslagen zu betrachten. Auf dem Stephansplatze hat sie den Einfall, auf eine Weile in die Kirche zu treten. In dem dämmrigen, kühlen Riesenraum überkommt sie ein tiefes Wohlgefühl. Sie ist niemals fromm gewesen, doch in Gotteshäuser tritt sie nie ohne Andacht, und ohne ihre Gebete in eine bestimmte Form zu kleiden, hat sie doch stets irgend eine Art gesucht, ihre Wünsche zum Himmel empor zu senden. Sie wandelt in der Kirche zuerst umher wie eine Fremde, die einen schönen Bau besichtigt. Vor einem kleinen Altar in einer Seitenkapelle setzt sie sich auf eine Bank.
Der Tag ihrer Trauung fiel ihr ein, und sie sah sich mit ihrem verstorbenen Mann vor dem Priester stehen, – aber das war so unendlich weit und berührte ihre Seele so wenig, als wenn sie an ganz fremde Menschen dächte. Doch plötzlich, wie ein Bild in einer Zauberlaterne sich ändert, sah sie statt ihres Mannes Emil an ihrer Seite, und so gänzlich ohne Mithilfe ihres Willens schien dieses Bild dazustehen, daß es ihr wie eine Ahnung, ja wie eine vom Himmel gesandte Vorhersage scheinen wollte. Unwillkürlich faltete sie die Hände und sagte leise: »Laß es so werden.« Und als käme ihrem Wunsche dadurch noch bessere Kraft, blieb sie auf der Bank eine Weile sitzen und versuchte, das Bild festzuhalten. Nach einigen Minuten trat sie wieder auf die Straße, wo das volle Licht und der Lärm sie als etwas so Neues, lang nicht Erlebtes anmutete, als hätte sie ganze Stunden in der Kirche verbracht. Sie fühlte sich ruhig und wie von Hoffnungen umschwebt.
In einem vornehmen Hotelrestaurant in der Kärnthnerstraße speiste sie zu Mittag. Sie war gar nicht befangen und fand es recht kindisch, daß sie nicht lieber in einem Gasthof ersten Ranges abgestiegen war. Wieder zu Hause in ihrem Zimmer angelangt, kleidete sie sich aus; sie war durch die ungewohnt reichliche Mahlzeit und den genossenen Wein in einen solchen Zustand von Mattigkeit geraten, daß sie sich auf dem Divan ausstreckte und einschlief. Erst um fünf Uhr erwachte sie. Sie hatte keine rechte Lust, sich zu erheben. Sonst um diese Stunde .... Was täte sie jetzt wohl, wenn sie nicht nach Wien gereist wäre? Wenn er ihr nicht geantwortet – wenn sie ihm nicht geschrieben? Wenn er keinen Orden bekommen? Wenn sie nie sein Bild in einer illustrierten Zeitung gesehen? Wenn nichts sein Dasein ihr ins Gedächtnis zurückgerufen hätte? Wenn er ein kleiner, unbekannter Geiger in irgend einem Vorstadt-Orchester geworden wäre? Was für sonderbare Gedanken! Liebt sie ihn denn, weil er berühmt ist? Was bedeutet ihr das alles? Ja, interessiert sie sich denn überhaupt für sein Violinspiel? ... War es ihr nicht lieber, wenn er nicht berühmt und bewundert wäre? – Gewiß, da würde sie sich ihm viel näher, viel verwandter fühlen, da hätte sie nicht diese Unsicherheit ihm gegenüber, und auch er wäre anders zu ihr. – Er ist ja auch jetzt sehr liebenswürdig und doch ... jetzt kommt es ihr zu Bewußtsein ... irgend etwas ist heute zwischen ihnen gewesen und hat sie getrennt. Ja, und das ist nichts anderes, als daß er ein Mensch ist, den die ganze Welt kennt, und sie nichts als eine kleine dumme Frau aus der Provinz. Und sie sieht ihn plötzlich vor sich, wie er im Saal vor den Rembrandts gestanden und zum Fenster hinausgeschaut, während sie erzählt hat; wie er ihr kaum Adieu gesagt, und wie er von ihr fortgegangen, ja geradezu geflohen war. Aber hatte sie denn selbst irgend etwas empfunden wie für jemanden, den man liebt? Ist sie glücklich gewesen, während er zu ihr sprach? Hat sie sich gesehnt, ihn zu küssen, während er neben ihr stand? ... Nichts von alledem. Und jetzt – freut sie sich auf den Abend, der kommt? Freut sie sich, ihn in zwei Stunden wiederzusehen? Und wenn sie sich durch einen Wunsch hinversetzen könnte, wohin sie will, wäre sie jetzt vielleicht nicht lieber daheim, bei ihrem Buben, ginge mit ihm zwischen den Weingeländen spazieren ohne Angst, ohne Aufregung, mit gutem Gewissen, als brave Mutter, als anständige Frau, statt hier in dem ungemütlichen Hotelzimmer auf einem schlechten Divan zu liegen und unruhig und doch ohne Sehnsucht die nächsten Stunden zu erwarten? Sie denkt an die Zeit, die noch so nahe ist, da sie sich um nichts gekümmert, als um ihren Buben, um die Wirtschaft und um ihre
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