Erzaehlungen
Lektionen – ist sie da nicht zufrieden, beinahe glücklich gewesen? ... Sie schaut um sich. Das kahle Hotelzimmer mit den häßlich blau und weiß gemalten Wänden, den Staub-und Schmutzflecken oben an der Decke, dem Schrank mit der halboffenen Türe ist ihr sehr widerwärtig. Nein, das ist nichts für sie! Auch an das Mittagessen in dem vornehmen Hotel denkt sie jetzt mit Unbehagen zurück, ebenso an ihr Umherlaufen in der Stadt, an ihr Müdewerden, an den Wind und den Staub; es ist ihr, als ob sie herumvagabundiert wäre. Und jetzt fällt ihr noch etwas ein: wenn sich zu Hause irgend was ereignet! – Ihr Kleiner kann Fieber bekommen, man telegraphiert nach Wien an ihre Cousine, oder man kommt gar sie suchen, und man findet sie nicht, und es stellt sich heraus, daß sie gelogen hat, wie irgend eine schlechte Person, die eben Ursache dazu hat .... Entsetzlich! wie steht sie da! Vor ihrer Schwägerin, vor dem Schwager, vor Elly, vor ihrem erwachsenen Neffen, ... vor der ganzen Stadt, die es ja gleich erfahren wird, ... vor Herrn Rupius! – Nein, wahrhaftig, sie ist nicht geschaffen für solche Dinge! Wie kindisch, wie ungeschickt hat sie es doch angefangen, so daß es nur des kleinsten Zufalls braucht, um sie zu verraten. Ja, hatte sie sich denn das alles gar nicht überlegt? War sie nur von der Idee besessen gewesen, ihn wiederzusehen, und hatte sie dafür alles aufs Spiel gesetzt .... ihren guten Ruf, ja ihre ganze Zukunft?! – Denn wer weiß, ob nicht die Familie sich von ihr lossagt und sie ihre Lektionen verliert, wenn alles herauskommt? .... Alles ... Aber was kommt denn heraus? Was ist denn geschehen? Was hat sie sich vorzuwerfen? – Und mit dem beglückenden Gefühl reinen Gewissens darf sie sich antworten: Nichts. Und sie kann ja noch heute ... gleich jetzt mit dem Sieben-Uhr-Zug Wien verlassen, um zehn wieder daheim sein in ihrer Wohnung, in ihrem traulichen Zimmer, bei ihrem geliebten Buben ... Ja, das kann sie; allerdings ist ihr Bub nicht zu Haus, ... aber sie könnte ihn holen lassen ... Nein, sie wird es nicht tun, sie wird nicht zurückfahren, ... nein, dazu liegt kein Anlaß vor – morgen früh ist's auch noch nicht zu spät. Sie wird eben heute Abend von Emil Abschied nehmen, ... sie wird ihm gleich mitteilen, daß sie morgen früh wieder nach Hause fährt, daß sie überhaupt nur gekommen ist, ihm einmal die Hand zu drücken.. ja, so ist es am besten. Oh, er kann sie auch bis zu ihrem Hotel begleiten, ach Gott, auch mit ihr nachtmahlen, in einem Gartenrestaurant, .... und sie wird von ihm gehen, wie sie gekommen .... Und überdies, aus seinem Benehmen wird sie ersehen, wie er sich eigentlich zu ihr stellt; sie wird sehr zurückhaltend sein, sogar kühl, und es wird ihr sehr leicht ankommen, denn sie fühlt sich vollkommen ruhig. Es ist ihr, als wären alle Wünsche wieder eingeschlafen, und sie fühlt es wie ihre Bestimmung, eine anständige Frau zu bleiben. Sie hat als junges Mädchen den Versuchungen widerstanden, ihrem Gatten ist sie treu gewesen, ihre ganze Witwenzeit war bisher ohne Anfechtungen verlaufen, ... nun, kurz und gut, wenn er sie zu seiner Frau nehmen will, wird sie sehr froh darüber sein, aber jeden kühneren Antrag wird sie mit derselben Strenge abweisen wie .... wie .... vor zwölf Jahren, als er ihr hinter der Paulanerkirche sein Fenster gezeigt hat.
Sie steht auf, sie dehnt sich, reckt die Hände, geht zum Fenster. Der Himmel ist trübe geworden, vom Gebirg her ziehen Wolken, aber der Sturm hat sich gelegt. Sie macht sich zum Fortgehen bereit.
Kaum war Berta ein paar Schritte vom Hotel entfernt, begann es zu regnen. Unter dem aufgespannten Schirm kam sie sich gegen unerwünschte Begegnungen geschützt vor. In der Luft verbreitete sich ein angenehmer Geruch, als sänke mit dem Regen ein Duft der nahen Wälder über die Stadt. Berta überließ sich ganz dem Vergnügen des Spazierengehens, selbst das Ziel ihres Weges schwebte ihr nur wie im Nebel vor. Sie war von der Fülle wechselnder Empfindungen endlich so müde geworden, daß sie gar nichts mehr empfand. Sie war ohne Angst, ohne Hoffnung, ohne Vorsatz. Sie ging wieder an den Gärten vorbei über den Ring und freute sich des feuchten Fliederdufts. Heute Vormittag hatte sie gar nicht bemerkt, daß alles in violetten Blüten prangte. Ein Einfall brachte ein Lächeln auf ihre Lippen: sie trat in eine Blumenhandlung und kaufte ein kleines Veilchenbukett. Während sie die Veilchen an den Mund führte, kam eine große
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