Erzaehlungen
erst, wie sie ganz nah tritt, das Gesicht von Anna deutlich sehen kann. Sie scheint zu schlafen. Berta tritt näher. Sie hört den Atem Annas, er ist gleichmäßig, aber unbegreiflich rasch, nie hat sie ein menschliches Wesen so atmen gehört. Jetzt fühlt Berta die Blicke der beiden andern auf sich gerichtet. Nur einen Augenblick wundert sie sich, daß man sie so ohne weiteres hereingelassen, dann begreift sie, daß jetzt alle Vorsichtsmaßregeln überflüssig geworden sind; diese Sache ist entschieden.
Noch zwei Augen richteten sich plötzlich auf Berta. Frau Rupius selbst hatte die ihren aufgeschlagen und betrachtete die Freundin mit Aufmerksamkeit. Die Wärterin machte Berta Platz und ging ins Nebenzimmer. Berta setzte sich und rückte näher heran. Sie sah, wie Anna ihr eine Hand langsam entgegenhielt, und ergriff sie. »Liebe Frau Rupius,« sagte sie. »Nicht wahr, es geht Ihnen jetzt schon viel besser.« Sie fühlte, daß sie wieder etwas Ungeschicktes sagte, aber sie fand sich darein. Es war nun einmal ihr Los dieser Frau gegenüber, noch in der letzten Stunde.
Anna lächelte; sie sah so blaß und jung aus wie ein Mädchen. »Ich danke Ihnen, liebe Berta,« sprach sie.
»Aber liebe, liebe Anna, wofür denn?« Sie hatte die größte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Zugleich aber war sie sehr neugierig zu erfahren, was denn eigentlich geschehen war.
Ein langes Schweigen entstand. Anna schloß die Augen wieder und schien zu schlafen, Herr Rupius saß regungslos da; Berta sah bald auf die Kranke, bald auf ihn. Sie dachte: Jedenfalls muß ich warten. Was Emil sagen würde, wenn
ich
plötzlich tot wäre? Ah, das täte ihm doch ein wenig leid, wenn er denken müßte: die ich vor ein paar Tagen in meinen Armen hielt, jetzt verwest sie. Er würde sogar weinen. Ja, in diesem Fall würde er weinen ... ein so elender Egoist er sonst ist .... Ah, wohin flogen denn wieder ihre Gedanken? Hielt sie nicht immer noch die Hand der Freundin in der ihren? Oh, wenn sie sie retten könnte!.. Wer war nun übler dran! Diese, die da sterben mußte, oder sie, die man so schmählich betrogen hatte? War denn das notwendig, wegen einer Nacht?.. Ah, das klang noch viel zu schön! ... wegen einer Stunde – sie so zu erniedrigen, sie zu ruinieren – war das nicht gewissenlos, frech? ... Wie haßte sie ihn! wie haßte sie ihn! ... Wenn er nur in seinem nächsten Konzert stecken bliebe, daß ihn alle Leute auslachten und er sich schämen müßte und in allen Zeitungen stände: Herr Emil Lindbach ist fertig, vollkommen fertig. Und alle seine Geliebten würden sagen: Ah, fällt mir gar nicht ein! ein Geigenspieler, der stecken bleibt ...! ... Ja, dann würde er sich wohl ihrer erinnern, der einzigen, die ihn seit ihrer Kindheit, die ihn wahrhaft geliebt hat ... und die er nun so niederträchtig behandelte! ... Dann müßte er doch zurück und sie um Verzeihung bitten, – und sie würde ihm sagen: Siehst du, Emil, siehst du, Emil ... denn etwas Gescheiteres fiele ihr natürlich nicht ein Da denkt sie nun schon wieder an ihn, immer an ihn – und hier stirbt eine, und sie sitzt am Bett, und dieser Schweigende dort ist der Gatte ...... So still ist es, nur von der Straße her, über den Balkon, durch die offene Tür wie hereingetragen, verwirrtes Geräusch – Menschenstimmen, Räderrollen, das Glockensignal eines Radfahrers, ein Säbel, der übers Pflaster scheppert, dazwischen Gezwitscher von Vögeln – aber all das ist so fern, gehört so gar nicht dazu ...
Anna wird unruhig, sie wirft den Kopf hin und her – oft, rasch, immer rascher ... Eine Stimme hinter Berta sagt leise: »Jetzt fängt's an.« Berta wandte sich um. Es war die Wärterin mit dem heiteren Gesicht; aber Berta sah jetzt, daß dieser Ausdruck gar keine Heiterkeit bedeutete, sondern nur den erstarrten Versuch, nie einen Schmerz merken zu lassen, und sie fand dieses Gesicht unbeschreiblich furchtbar ... Wie hatte sie gesagt? ... Jetzt fängt es an .... ja, wie ein Konzert oder eine Theatervorstellung ..... Und sie erinnerte sich daran, daß einmal auch an ihrem Bett dieselben Worte gesprochen wurden, damals als ihre Wehen begannen .....
Anna öffnete plötzlich die Augen, sehr weit, sehr groß; heftete sie auf ihren Mann und sagte ganz vernehmlich, indem sie sich vergeblich aufzurichten trachtete: »Nur dich, nur dich .... glaub' mir, nur dich hab' ich .....« Das letzte Wort war nicht zu verstehen, aber Berta erriet es.
»Ich weiß,« sagte Rupius. Dann beugte er
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