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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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sich herab und küßte die Sterbende auf die Stirn. Anna schlang die Arme um ihn, seine Lippen weilten lange auf ihren Augen. Die Wärterin war wieder hinausgegangen. Plötzlich stieß Anna ihren Mann von sich, sie kannte ihn nicht mehr, ihr Bewußtsein war dahin. Berta stand sehr erschrocken auf, blieb aber am Bette stehen. Herr Rupius sagte zu Berta: »Gehen Sie jetzt.« Sie zögerte.
    »Gehen Sie,« sagte er noch einmal und streng.
    Berta sah ein, daß sie gehen mußte. Auf den Zehenspitzen entfernte sie sich aus dem Zimmer, als könnte das Geräusch von Schritten Anna noch stören. Als sie ins Vorzimmer kam, sah sie eben Doktor Friedrich, der den Überzieher ablegte und während dieser Zeit mit einem jungen Arzt, dem Sekundarius des Spitals, sprach. Er bemerkte Berta nicht, und sie hörte ihn folgendes sagen: »In jedem andern Falle hätt' ich die Anzeige erstattet, aber da die Sache so ausgeht .... Überdies war' es ein entsetzlicher Skandal, und der arme Rupius litte am meisten darunter.« Jetzt sah er Berta. »Guten Tag, Frau Garlan.«
    »Ja, Herr Doktor, was ist denn eigentlich?«
    Doktor Friedrich sah den Sekundararzt mit einem raschen Blick an; dann erwiderte er: »Blutvergiftung. Sie wissen ja, gnädige Frau, manchmal schneidet man sich in den Finger und stirbt daran; die Verletzung ist nicht immer zu entdecken. Es ist ein großes Unglück ... ja, ja.« Er ging ins Zimmer, der Assistent folgte ihm.
    Berta war wie betäubt, als sie auf die Straße trat. Was für eine Bedeutung hatten die Worte, die sie gehört? – – Anzeige? – Skandal? Ja, hatte am Ende Rupius selbst seine Frau umgebracht? ... Nein, was für ein Unsinn! – Aber irgend etwas war an Anna verübt worden, ganz gewiß ... und es mußte irgendwie mit der Reise nach Wien zusammenhängen: denn in der Nacht nachher war sie erkrankt ... Und die Worte der Sterbenden fielen ihr ein: Nur dich, nur dich hab' ich geliebt! ... Hatte das nicht geklungen wie eine Bitte um Verzeihung ... Nur dich geliebt – aber einen andern ... Gewiß, sie hatte einen Liebhaber in der Stadt ... nun ja, aber was weiter? ... Ja, sie hatte fortreisen wollen und es doch nicht getan ... Wie hatte sie nur damals auf dem Bahnhof gesagt ... Ich habe mich zu etwas anderem entschlossen ... Ja, gewiß, sie hatte von dem Liebhaber in Wien Abschied genommen und sich hier – vergiftet? ... Aber warum denn, wenn sie nur ihren Gatten liebte? .... Und das war keine Lüge! Gewiß nicht! Berta konnte es nicht verstehen ....
    Warum war sie denn nur fortgegangen? ... Was sollte sie denn jetzt tun? .... Sie hatte zu nichts Ruhe. Sie konnte weder nach Hause, noch zu ihren Verwandten, sie mußte wieder zurück .... Ob Anna auch hätte sterben müssen, wenn heut' ein anderer Brief von Emil gekommen wäre? .... Wahrhaftig, sie verlor den Verstand.. Das waren ja Dinge, die gar nicht zusammenhingen – und doch .... warum konnte sie sie nicht voneinander trennen? –
    Wieder eilte sie die Stiege hinauf. Es war noch keine Viertelstunde, daß sie das Haus verlassen. Die Tür zur Wohnung stand offen, die Wärterin war im Vorzimmer. »Schon vorbei,« sagte sie. Berta ging weiter. Herr Rupius saß ganz allein am Tisch, die Tür zum Sterbezimmer war geschlossen. Er ließ Berta ganz nah an sich herankommen, ergriff ihre Hand, die sich ihm entgegenstreckte, dann sagte er: »Warum nur hat sie's getan? hat sie
das
getan?«
    Berta schwieg.
    Rupius sprach weiter. »Es war nicht notwendig – heiliger Himmel, es war nicht notwendig! Was gehen mich die anderen Menschen an – nicht wahr?«
    Berta nickte.
    »Auf das Lebendigsein kommt es an – das ist es. Warum hat sie das getan?« Es klang wie ein verhaltenes Jammern, obzwar er ganz ruhig zu reden schien. Berta weinte.
    »Nein, es war nicht notwendig! Ich hätt' es aufgezogen, aufgezogen wie mein eigenes Kind.«
    Berta blickte jäh auf. Mit einemmal verstand sie alles, und eine furchtbare Angst durchlief ihr ganzes Wesen. Sie dachte an sich selbst. Wenn auch sie in dieser einen Nacht ... in dieser einen Stunde..?! Ihre Angst war so groß, daß sie glaubte, die Sinne müßten ihr vergehen. Was ihr bisher kaum als Möglichkeit vorgeschwebt, stand plötzlich wie eine unbestreitbare Gewißheit vor ihr. – Es konnte gar nicht anders sein, der Tod Annas war eine Vorbedeutung, ein Fingerzeig Gottes. Und zugleich tauchte die Erinnerung in ihr auf, an jenen Spaziergang an der Wien vor zwölf Jahren, da Emil sie geküßt und sie das erstemal heiße Sehnsucht nach

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