Erzaehlungen
einem Kind empfunden. Warum hatte sie keine empfunden, als sie neulich in seinen Armen lag? ... Ja, nun wußte sie: sie hatte nichts anderes wollen als die Lust eines Augenblicks, sie war nicht besser gewesen als eine von der Straße, und es wäre nur eine gerechte Strafe des Himmels, wenn auch sie an ihrer Schande so zugrunde ginge wie die Arme, die da drin lag.
»Ich möchte sie noch einmal sehen,« sagte sie.
Rupius wies auf die Türe. Berta öffnete sie, näherte sich langsam dem Bett, auf dem die Tote ruhte, betrachtete sie lange und küßte sie auf beide Augen. Da überkam sie eine Ruhe ohnegleichen. Sie wäre am liebsten stundenlang bei der Leiche geblieben, in deren Nähe ihre eigenen Enttäuschungen und Leiden alle Wichtigkeit verloren. Sie kniete am Bette nieder und faltete die Hände, doch ohne zu beten.
Plötzlich flimmerte es ihr vor den Augen, eine wohlbekannte plötzliche Schwäche kam über sie, ein Schwindel, der sich gleich verlor. Zuerst bebte sie leise, dann aber atmete sie tief wie erlöst auf, denn mit dem Hereinbrechen dieser Ermattung fühlte sie ja auch, daß in diesem Augenblick nicht nur ihre Befürchtungen von früher, sondern der ganze Wahn dieser wirren Tage, die letzten Schauer einer verlangenden Weiblichkeit, alles, was sie für Liebe gehalten, in nichts zu verströmen begannen. Und an diesem Totenbette kniend, wußte sie, daß sie nicht von denen war, die, mit leichtem Sinn beschenkt, die Freuden des Lebens ohne Zagen trinken dürfen. Mit Ekel dachte sie an die eine Stunde der Lust, die ihr vergönnt gewesen, und wie eine ungeheure Lüge erschienen ihr die schamlosen Wonnen, die sie damals gekostet, gegenüber der Unschuld jenes sehnsüchtigen Kusses, dessen Erinnerung ihr ganzes Dasein verschönt hatte. Klar hingebreitet in wundervoller Reinheit erschienen ihr jetzt die Beziehungen, die zwischen dem Gelähmten da draußen und dieser Frau bestanden hatten, die an ihrem Betrüge sterben mußte. Und während sie die blasse Stirn der Toten betrachtete, mußte sie an den Unbekannten denken, für den sie hatte sterben müssen und der straflos und wohl auch reuelos draußen in der großen Stadt herumgehen und weiterleben durfte, wie ein anderer auch ... nein, wie tausend und tausend andere, die neulich ihr Kleid gestreift und sie begehrlich angestarrt hatten. Und sie ahnte das ungeheure Unrecht in der Welt, daß die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt ward, als in den Mann; und daß es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist.
Sie erhob sich, warf einen letzten Blick des Abschieds auf die geliebte Freundin und verließ das Sterbegemach. Herr Rupius saß im Nebenzimmer geradeso, wie sie ihn verlassen. Ein tiefes Verlangen überkam sie, ihm Worte des Trostes zu sagen. Es war ihr einen Augenblick, als hätte ihr eigenes Schicksal nur den einen Sinn gehabt, sie das Elend dieses Mannes ganz verstehen zu machen. Sie hätte gewünscht, ihm das sagen zu können, aber sie fühlte, daß er zu denen gehörte, die mit ihrem Schmerz allein sein wollen. So setzte sie sich schweigend ihm gegenüber. –
Arthur Schnitzler
Andreas Thameyers letzter Brief
Keineswegs kann ich weiterleben. Denn solange ich lebe, würden die Leute höhnen, und niemand sähe die Wahrheit ein. Die Wahrheit aber ist, daß mir meine Frau treu war – ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist, und ich besiegle es durch meinen Tod. Auch habe ich in vielen Büchern nachgelesen, die diese schwierige und rätselhafte Materie behandeln, und wenn es auch Leute gibt, welche die Tatsache an sich bezweifeln, so sind doch anderseits Gelehrte von Bedeutung aufgestanden, die völlig überzeugt sind, und ich gedenke hierselbst Beispiele anzuführen, die jedem Unparteiischen als unwidersprechlich erscheinen müssen. So erzählt Malebranche, daß eine Frau anläßlich der Kanonisationsfeier des heiligen Pius dessen Bildnis so scharf betrachtete, daß der Knabe, den sie bald darauf zur Welt brachte, diesem Heiligen vollkommen glich; – ja sein Antlitz zeigte die müden Züge des Alters, seine Arme waren über die Brust gekreuzt, seine Augen gen Himmel gerichtet, und zum Überfluß zeigte sich noch auf einer Schulter in Gestalt eines Muttermales die herabhängende Mütze. Wem aber diese Erzählung trotz der Autorität des Zeugen, der ein Nachfolger des berühmten Philosophen Cartesius war, nicht genügend beglaubigt erscheint, dem wird
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