Erzaehlungen
schwere Zigarre, und als man sich endlich voneinander verabschiedete, fühlte sich Gräsler so einsam wie nur je.
Sechstes Kapitel
Die Schulferien gingen zu Ende, und Karl wurde von seiner Mutter nach Berlin gebracht, von wo sie nach wenigen Tagen und, wie nicht anders erwartet wurde, mit einer Magenverstimmung zurückkehrte. Doktor Gräsler, nun auch wieder ärztlich gewünscht, erschien Abend für Abend im Forsthaus, wobei es auch verblieb, nachdem Frau Schleheim vollkommen genesen war. Nun fügte es sich öfters, daß er stundenlang mit Sabinen allein im Haus oder im Freien plauderte, da die Eltern, ein ihnen wahrscheinlich nicht unwillkommenes Einverständnis vermutend, sich gerne abseits hielten. Gräsler sprach von seiner Jugend, von seiner alten wallumgebenen, vielgetürmten Heimatstadt und von seinem Elternhaus mit der altväterischen Wohnung, die jahraus, jahrein geduldig wartete, um für ein paar Wochen oder Tage ihn – und bis vor kurzem auch die Schwester – zu kurzer Frühjahrs- oder Herbstrast zu beherbergen. Und wenn ihm Sabine aufmerksam und nicht unbewegt zuhörte, so mußte er sich vorstellen, wie schön das wäre, wenn er mit ihr zusammen heimkehrte, und was sein alter Freund, der Rechtsanwalt Böhlinger, für Augen dazu machen würde, – der einzige Mensch übrigens, der noch eine gewisse lose Verbindung zwischen ihm und der Vaterstadt aufrecht erhielt.
Und als nun diesmal ungewöhnlich früh und mit besonderer Macht der Herbst einbrach, die meisten Kurgäste vor der Zeit entflohen und für Doktor Gräsler alle Stunden, die er nicht im Forsthaus verbringen durfte, leer und verödet waren, da überkam ihn eine solche Angst davor, sein einsames, sinn- und hoffnungsloses Wanderleben von neuem zu beginnen, daß er sich manchmal geradezu für entschlossen hielt, in aller Form um Sabine anzuhalten. Doch statt geradeaus eine Frage an sie selbst zu richten, wozu er den Mut nicht aufzubringen vermochte, kam er auf den Einfall – als wäre dies eine Art, sich beim Schicksal Rats zu erholen – Umfrage zu halten, ob die Heilanstalt des Doktor Frank, von der Sabine neulich zum zweitenmal flüchtig gesprochen hatte, ernstlich, und zu welchen Bedingungen sie zum Verkauf stünde. Als nichts Bestimmtes zu erfahren war, suchte er den Besitzer auf, der ihm persönlich bekannt war, fand den verdrossenen, alten Mann in einem schmutzig-gelben Leinenanzug, eher einem bäuerischen Sonderling als einem Arzt ähnlich, eine Pfeife rauchend, auf einer weißen Bank vor dem Sanatorium sitzend und fragte ihn geradezu, was es denn eigentlich mit jenen Gerüchten auf sich hätte. Es zeigte sich, daß auch Direktor Frank nur beiläufig da und dort seine Absicht verraten und anscheinend auch seinerseits irgend etwas wie einen Schicksalswink erwartet hatte. Jedenfalls war er durchaus gesonnen, seinen Besitz je eher je lieber loszuschlagen, da er die paar Jahre, die ihm noch beschieden wären, in möglichster Entfernung von wirklichen und eingebildeten Kranken zu verbringen und sich von den hunderttausend Lügen zu erholen wünschte, zu denen ihn sein Beruf zeitlebens gezwungen hätte. »Sie können's auf sich nehmen,« sagte er, »Sie sind noch jung«, was Doktor Gräsler zu einer melancholisch abwehrenden Handbewegung veranlaßte. Er besichtigte die Anstalt in allen ihren Räumen, fand sie aber zu seinem Bedauern noch vernachlässigter und verfallener, als er gefürchtet hatte. Auch machten die wenigen Patienten, denen er im Garten, auf den Gängen und im Inhalationssaal begegnete, auf ihn keineswegs den Eindruck zufriedener oder hoffnungsvoller Menschen; ja es war ihm, als läge in den Blicken, mit dem sie ihren Arzt grüßten, Mißtrauen, beinahe Feindseligkeit. Aber als Gräsler von dem kleinen Balkon aus, der zu der Privatwohnung des Direktors gehörte, die Augen über den Garten und weiter hinaus über das freundliche Tal bis zu den gelind aufstrebenden und etwas umnebelten Hügeln schweifen ließ, an deren Rand er das Forsthaus ahnte, da fühlte er sich plötzlich von einer so heißen Sehnsucht nach Sabinen erfaßt, daß er sein Gefühl für sie zum ersten Male mit völliger Sicherheit als Liebe erkannte und es wie ein wunderbares Ziel vor sich sah, bald mit Sabinen eng umfaßt auf der gleichen Stelle zu stehen und ihr den ganzen Besitz erneut und verschönt als seiner Gefährtin und Frau gleichsam zu Füßen zu legen. Er bedurfte einiger Selbstbeherrschung, um sich scheinbar unschlüssig von Direktor Frank zu
Weitere Kostenlose Bücher