Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
Vom Netzwerk:
anderen zu überlassen, das konnte niemand, auch Marianne konnte es nicht ahnen, und er selbst begriff es in diesem Augenblick weniger denn je.
    Er versuchte, sich das letzte Gespräch mit Alberta ins Gedächtnis zurückzurufen. Er erinnerte sich seiner anfangs scherzhaften Bemerkungen über den Amerikaner, ihres sonderbaren Schweigens, ihres Lächelns und endlich ihrer plötzlichen, ganz unerwarteten Mitteilung, daß der Fremde ihr seine Hand angetragen habe. Er wußte auch noch ganz genau, daß es ihn vorübergehend angewandelt, als wenn er ohnmächtig zu Boden stürzen oder Alberta einen Schlag vor die Stirn versetzen müßte. Aber er hatte weiter den Heiteren, den Überlegenen gespielt und freundschaftlich-väterlich Alberta zur Annahme jenes Antrages geraten, da er ihrer Zukunft nicht hinderlich im Wege stehen wolle. So hatten sie sich am Ende dahin geeinigt, daß sie noch heute abend dem Amerikaner ihr Jawort erteilen und daß Robert am nächsten Morgen, ohne sie noch einmal zu sehen, allein abreisen solle. Robert erinnerte sich auch sehr deutlich, wie er um sechs Uhr früh seine Rechnung bezahlt und in einem nicht eben unangenehmen Gefühl von Befreitheit mit einem letzten kaum wehmütigen Blick nach dem Fenster, hinter dessen geschlossenen Vorhängen Alberta noch schlafen mochte, die Bergstraße an den See hinuntergefahren war.
    Woran er sich aber durchaus nicht zu erinnern vermochte, das war der Augenblick, da er von Alberta endgültig Abschied genommen hatte. Noch sah er sich mit ihr auf einem schmalen Pfad, der, von dem breiteren Spazierweg abzweigend, ins Dunkel des Waldes führte; er entsann sich auch, daß er später, schon in der Finsternis, allein, von schwerer Müdigkeit befangen, auf einem Baumstumpf gesessen war; aber wie er den Weg ins Hotel zurückgefunden, was er in seinem Zimmer getan, wie er zu Bett gegangen und wie er des Morgens wieder aufgestanden war, davon wußte er nicht das geringste mehr. Erst beim Bezahlen der Rechnung in der Hotelhalle, wo eben der Boden gefegt wurde, setzte sein Gedächtnis wieder ein. Und plötzlich, mit einer bohrenden Angst, fragte er sich, ob das Gespräch mit Alberta nach jenem ihm in Erinnerung gebliebenen äußerlich scheinbar ruhigen Abschluß nicht etwa noch eine Fortsetzung ganz anderer Art gefunden hatte, die ihm aus dem Gedächtnis entschwunden; ob er nicht wirklich, von wühlender Eifersucht übermannt, zu einem Schlage gegen sie ausgeholt – ob er sie nicht gar erwürgt und nachher unter verwittertem Laub versteckt und eingescharrt hatte? Nur dies war sicher: Er war mit ihr in den Wald gegangen und ohne sie zurückgekehrt; ob sie später allein zurückgekommen war, das hatte er ja niemals erfahren. War sie nicht heimgekehrt, so mußte es freilich im Hotel aufgefallen sein, aber konnte er denn ahnen, was er zur Erklärung ihres Ausbleibens für geschickte Lügen erfunden und vorgebracht haben mochte? Wenn er, wie er es nun mit einem Male für möglich hielt, in einem Dämmerzustand einen Mord begangen, so lag alles andere gleichfalls im Bereiche der Möglichkeit; vor allem List und Tücke jeder Art, um das Verbrechen zu verschleiern.
    Es war ihm bewußt, daß all diese Einfalle und Erwägungen im Verlauf von wenigen Sekunden durch sein Hirn gejagt waren. Nun aber, da er Mariannens Augen mit einem unverkennbaren Ausdruck der Besorgnis auf sich gerichtet sah, fühlte er, daß er tödlich erblaßt war; und er sagte sich, daß es vor allem darauf ankam, sich nicht zu verraten. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung vermochte er seinem Antlitz einen harmlosen Ausdruck zu verleihen, und er bat Marianne, ihn bei seinem Bruder zu entschuldigen, da er jetzt eilen müsse, um eine Wohnung auf der Wieden, die nur bis zu einer gewissen Stunde zur Besichtigung freistände, nochmals in Augenschein zu nehmen. »Für morgen aber lade ich mich wieder zu Tisch bei euch ein, wenn ich nicht doch vielleicht«, setzte er eilig hinzu, »für ein paar Tage auf den Semmering fahre.« – »Unruhiger Geist«, rief Marianne ihm zum Abschied nach.
    Als er aus dem Tore trat, stand gegenüber, vor einem großen Spiegelfenster, eine Zigarre rauchend, ein Herr von fragwürdig-verdächtiger Eleganz, der mit auffallender Raschheit den Blick wandte, als Robert ihn ins Auge faßte. Sind wir so weit? dachte er flüchtig. Dann aber lachte er. Es wäre das Neueste, sagte er vor sich hin, wegen einer Wahnidee verhaftet und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Denn daß es nur eine törichte

Weitere Kostenlose Bücher