Erzaehlungen
Adresse verriet Albertens Schriftzüge. Also – sie lebte. Das Gefühl von Freude, ja von Befreiung, das ihn plötzlich durchströmte, brachte ihm zum Bewußtsein, daß auf dem Grund seiner Seele jener überwunden geglaubte Wahn immer noch gelauert hatte. Albertens Brief war kurz, sachlich und zeigte wieder jene Unfähigkeit, auch anläßlich der sonderbarsten Schickungen in Erstaunen zu geraten, die ihr in noch höherem Grade als so vielen anderen Frauen eigen war. Sie lebte, wie aus ihrem Brief hervorging, in Chikago und war verheiratet, aber nicht mit dem Amerikaner, in dessen Begleitung sie hinübergereist war, sondern mit einem deutschen Kaufmann, den sie erst drüben kennengelernt hatte. »Im nächsten Sommer«, hieß es weiter, »wollen wir nach Europa reisen, und wenn wir nach Wien kommen und Du noch an mich denkst und Du mich sehen willst, werde ich Dir viel zu erzählen haben.« Dann fragte sie, wie es ihm ergangen sei und ob er nicht, was sie ihm von Herzen wünsche, eine liebe, kleine Frau gefunden habe, die ihn nicht so nervös mache, wie es ihr, freilich ganz ohne ihre Schuld, leider öfters begegnet sei.
In froher Erregung ging Robert in seinem Zimmer auf und ab. Ihm war, als sei durch diesen Brief eine düstere, gefahrvolle Epoche seines Lebens ein für allemal abgeschlossen. Bedurfte es eines solchen Schriftstückes auch nicht mehr zu seiner eigenen Beruhigung, es war unschätzbar als Beweismittel gegen Anschuldigungen und Verdächtigungen aller Art, und er verwahrte den Brief sorgfältig, ehe er sich zu Bett legte.
XII
Die Verlobten suchten in vorstädtischen Bezirken nach einer bescheidenen Wohnung. Sie waren für die nächste Zukunft auf Roberts Beamtengehalt und auf eine geringfügige Rente aus dem Erbteil von Paulas Großeltern angewiesen, und Paula sprach zuweilen davon, ob sie nicht durch Erteilung von Violinlektionen das Ihrige zum Haushalt werde beitragen können. Als bei dieser Gelegenheit einmal der Name des verstorbenen Komponisten fiel, ließ Robert einen Blick auf ihr ruhen, der eine Erklärung zu erbitten, ja zu fordern schien.
Sie standen auf dem kleinen Balkon der eben von ihnen gemieteten Wohnung. Es war eine Spätnachmittagsstunde, der erste Schnee dieses Winters fiel leise, und ein graues Dämmern sank in die kleinen, ärmlichen, entlaubten Gärten, die, durch niedere Mauern voneinander getrennt, ihnen zu Füßen lagen. Paula zog die dunkle Pelzboa fester um den Hals, trat mit Robert in das kahle, frisch geweißte Zimmer zurück, wo die Hausbesorgerin mit dem Schlüsselbund ihrer wartete, um sie über die schmale, durch freihängende Glühlampen nur notdürftig erleuchtete Stiege und durch den Flur, in dem Bretter und Kacheln herumlagen, ins Freie zu geleiten; und nun gingen sie schweigend weiter, Arm in Arm, durch mäßig belebte Straßen einer stilleren Gegend zu, wo kleine Vorgärten den Beginn des Villenviertels ankündigten. Hier blieb der Schnee schon liegen, während er früher unter ihren Schritten in trübes Grau zerflossen war. Endlich begann Paula: »Ich habe deinen Blick dort oben wohl verstanden. Du hast also auch davon reden gehört?«
»Wie sollt' ich nicht? Die Geschichte war ja fast berühmt.«
»War sie das?« Sie lächelte vor sich hin.
»Wie lang ist's her, daß er tot ist?« fragte er leise.
»Sieben Jahre«, erwiderte sie.
»Du hast ihn geliebt?«
»Er hat mir viel bedeutet. Aber geliebt habe ich ihn nicht. Geliebt hab' ich einen andern. Davon haben die Leute freilich nicht gesprochen, es wäre auch nicht besonders interessant gewesen. Der andere war nämlich ein ganz unberühmter, junger Advokat. Vielleicht hast du ihn gekannt.« Und sie nannte den Namen eines jungen Mannes, dem Robert zuweilen flüchtig in Gesellschaft begegnet war.
»Ein ganz hübscher Mensch«, bemerkte er beiläufig.
»Ja, das war er wohl – und um zwanzig Jahre jünger als der andere.«
»Und wie kommt's, daß auch daraus nichts geworden ist?«
»Ich weiß selber nicht recht. Wahrscheinlich lag es daran, daß beide Geschichten zu gleicher Zeit spielten. Und so hat sich meine Seele bald dem einen, bald dem andern zugeneigt.«
»Deine Seele ...«, wiederholte er leise und nahm ihre Hand.
Sie umfaßte mit ihren Fingern die seinen. »Du hast recht. Es war nicht die Seele allein. Aber gefährlich wurde es doch niemals; weder da, noch dort. Vielleicht, weil ich nicht wußte, wohin mit mir. Und so ist ›nichts draus‹ geworden, wie du früher sagtest, weder eine Ehe, noch
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