Erzaehlungen
daß kein Schlaf über ihn kommen wollte. Viertelstunde auf Viertelstunde hörte er vom Kirchturm schlagen, und er dachte nach, ob ihm nicht im Laufe des verflossenen Abends etwas Unangenehmes oder Peinliches begegnet wäre. Doch anfangs suchte er vergeblich nach der mutmaßlichen Ursache seines steigenden Unbehagens. Der Abend war ungetrübt verlaufen. Robert und Paula als erklärtes Brautpaar hatten von allen Seiten unfeierlich-warme Glückwünsche entgegengenommen; es war ein wenig musiziert worden, endlich, bei Kaffee und Zigarre, hatte man in zwanglos-wechselnden Gruppen geplaudert. Ein engerer Fachkollege Ottos hatte Robert in ein anscheinend harmloses Gespräch gezogen, und dieser erinnerte sich, daß er dem Professor in irgendeinem Augenblick für dessen Zigarre Feuer gegeben und daß ihm bei dieser Gelegenheit das Streichhölzchen aus der Hand geglitten war. Offenbar hatte seine Hand ein wenig gezittert. Nun wurde ihm auch der eigentümliche, prüfende Blick gegenwärtig, den der Professor bei diesem Anlaß auf ihn gerichtet hatte. Robert war sich auch bewußt, sehr rasch geredet und sich ein paarmal versprochen zu haben, wie es ihm nach zwei oder drei Glas Wein leicht begegnete. Es war gewiß nicht undenkbar, daß einem ärztlichen Beobachter alle diese Nichtigkeiten und überhaupt eine gewisse Veränderung in seinem Wesen und in seinen Zügen, vor allem die unleugbare, immer noch vorhandene Ungleichheit der Lidspalten, aufgefallen sein konnten. Und er erwog, ob nicht Otto, dem eigenen Scharfblick grade in diesem Falle nicht völlig vertrauend, seinen Kollegen ersucht hatte, Robert unauffällig zu beobachten. Eines war sicher, daß die beiden, Otto und der Professor, nachher eine Weile in einer Fensternische sich angelegentlich miteinander unterhalten hatten. Und einmal hatte von der Nische her Otto den Bruder mit einem flüchtigen Blick gestreift und gleich wieder weggesehen.
Von plötzlicher Unruhe gepackt, schaltete Robert das licht ein, sprang aus dem Bett und trat vor den Spiegel. Das Antlitz, das ihm entgegensah, mit fahlen Wangen, weitaufgerissenen Augen und zerrauftem Haar, einen fremden Zug um die Lippen, erschreckte ihn tief. War das überhaupt sein eigenes Gesicht? Ja, das war es wohl, aber so, wie es sich einem offenbaren mußte, dem es gegeben war, hinter den gepflegten Masken des Alltags das echte, das wahrhaftige zu erkennen, in das die Spuren all der Ängste eingegraben waren, die ihn sein halbes Leben lang verfolgt und endlich durch die Welt gejagt hatten. Wenn auch ihre Macht in den letzten Wochen gemildert schien – seiner Umgebung mußte das keineswegs ebenso einleuchtend sein wie ihm selbst, und es war sehr naheliegend, daß Otto, der seit Jahren eine ernstere Nervenerkrankung, vielleicht den Ausbruch einer Geistesstörung bei ihm befürchtet hatte, ihn fortdauernd beobachtete und beobachten ließ.
Dem Professor war er noch niemals im Hause des Bruders begegnet – daß man ihn heute geladen, das konnte kein Zufall sein. Gewiß war Otto beunruhigt, hatte Sorgen um ihn und in diesen guten Tagen mehr als je zuvor. Grade jetzt, da Roberts Schicksal äußerlich und innerlich eine günstigere Wendung zu nehmen begann, da er zum erstenmal seit zwanzig Jahren erhobenen Hauptes in die Zukunft schauen durfte, war er seinem Bruder immer nur verdächtiger geworden. Aber ob die Gründe für dieses wachsende Mißtrauen nicht ebensosehr, ja eher noch mehr bei Otto gelegen sein konnten als bei ihm? Ob es sich nicht so verhielt, daß Otto, der in seiner eigenen Seele die ersten Zeichen einer Verstörung zu erkennen glaubte und davor zurückscheute, sie sich einzugestehen, das Unheil in satanischer Weise von sich abzuwenden versuchte, indem er es in eine andere, seiner Ansicht nach längst dafür vorbestimmte Seele, in die des eigenen Bruders hinüberdeutete? Wie oft schon hatte man gehört und gelesen, daß ein Wahnsinniger die Gesunden in seiner Umgebung für wahnsinnig hielt, daß ein geistig völlig normaler Mensch fälschlich als irrsinnig erklärt und ins Narrenhaus gesperrt wurde? Und nichts erweist sich schwerer, als einen Irrtum solcher Art auch für Außenstehende aufzuklären, wenn die Aufmerksamkeit einmal in die fälsche Bahn gelenkt worden ist.
Robert dachte an Gerichtsfalle, an Zeitungsnotizen, die von zufälligen, leichtfertigen oder verbrecherischen Irrtümern solcher Art erzählen. Und wie nahe lag ein solcher Irrtum grade in seinem eigenen Fall. Sein Leben lang, mindestens seit
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