Erzaehlungen
sonst was ... nichts.«
»Und du bereust nicht, – daß du vielleicht ein Glück versäumt hast?«
»Zuweilen ist es schon vorgekommen, das will ich nicht leugnen. Aber du vergißt, mein Lieber«, und sie lächelte müd, »ich bin aus guter Familie.«
Er erwiderte nichts, und sie wandelten weiter im leise herabsinkenden Schnee. Wie rein ist solch ein Leben, dachte er bei sich, wie fleckenlos und rein. Bin ich ihrer wert? Sie weiß, daß ich mancherlei erlebt habe. Doch sie fragt um nichts. Nun ja, warum sollte sie auch neugierig sein? Sie vermutet in meinem Leben nichts anderes als das, was junge Männer eben durchzumachen pflegen. Von dem Dunkel in meiner Seele ahnt sie nichts. Nichts von vergangenen, bösen Wünschen, die heute noch als Gespenster in mir umgehen, nichts von der Angst, die mich in schlimmen Stunden bedrückt, nichts von dem Brief, der in meines Bruders Händen ist, von dem furchtbaren Brief, der ihm Gewalt über mein Leben gibt.
Plötzlich fühlte er eine würgende Angst in sich aufsteigen, eine ganz neue, und doch wieder die alte. Wieso fiel ihm der Brief mit einem Male wieder ein? Was hatte der Brief denn heute noch zu bedeuten? Er hatte doch nur Geltung für einen bestimmten Fall; und dieser Fall lag nicht vor; konnte niemals eintreten. Er war nicht wahnsinnig; er war gesund. Aber was half ihm das, wenn ihn andere für wahnsinnig hielten? Was half es ihm, wenn am Ende der eigene Bruder ihn für wahnsinnig hielt? Konnte es nicht geschehen, daß grade die wundersame Veränderung seines Seelenzustandes, dieses Aufschweben, diese Gelöstheit, diese Heiterkeit seines Wesens, einem getrübten Blick die Anzeichen einer herannahenden Geistesstörung vortäuschten? Vor wenigen Tagen erst hatte sich Marianne ihm gegenüber mit wachsender Besorgnis über ihres Gatten blasses und abgespanntes Aussehen geäußert; – als Robert daraufhin eine brüderliche Mahnung an Otto wagte, war ihm das unverhältnismäßig Gereizte, fast Barsche in dessen Antwort aufgefallen, und in der Erinnerung schien ihm sogar, als hätte in der letzten Zeit Ottos Gang und Haltung einen eigentümlich veränderten Charakter angenommen. Sollte er kränker sein als ich, dachte Robert? – Er – der Kranke – er allein?
»Was ist dir?« fragte Paula. »Habe ich dir weh getan?«
Er faßte sich. »Geliebte«, flüsterte er und drückte ihr die Hand. Aber seine innere Unruhe vermochte er nicht mehr zu beschwichtigen. Er dachte an die tückische Schicksalsmöglichkeit, daß grade jetzt, da er sich dem Dasein wiedergegeben und zu einem stillen Glück bestimmt wähnte, sein unglückseliger Bruder sich zur Einlösung jenes furchtbaren Versprechens berechtigt und verpflichtet glauben könnte. Um seine plötzlich verdüsterte Stimmung zu entschuldigen, hielt er es für angezeigt, Paula mitzuteilen, daß er seit einigen Wochen von ernstlichen Sorgen um den Gesundheitszustand seines Bruders gequält werde, der sich in seinem Beruf immer mehr zugemutet habe, als auch die angespanntesten Kräfte dauernd zu leisten vermöchten. Er sprach von ihm mit Liebe, ja mit Schwärmerei, und fühlte dabei sein Herz von schmerzlich brennendem Mitleid schwellen.
Bewegt hörte Paula zu. Sie kannte Otto nur wenig, doch aus der Entfernung hatte sie ihm seit jeher lebhafte Sympathie entgegengebracht, die sie bei einer zufälligen Begegnung voriges Jahr am Krankenbett einer Freundin bestätigt und gerechtfertigt fand. Roberts Äußerungen steigerten ihre Teilnahme weiter; sie bat ihn, den gemeinsamen, dort längst erwarteten Besuch nicht länger hinauszuschieben, und so setzten sie ihn gleich für den nächsten Tag fest.
XIII
Dieser erste Besuch im Hause des Bruders ließ sich vortrefflich an. Die Kinder waren von der neuen Tante, die Bilderbücher und Näschereien mitbrachte, sofort entzückt, Mariannes kühle Liebenswürdigkeit erwärmte sich allmählich, und Ottos Wesen wirkte auf Paula grade durch den freundlich-spöttischen Ton, der ihm in oberflächlicher Unterhaltung eigen war, vom ersten Augenblick an wie längst vertraut. In diesem Dunstkreis wechselseitiger Herzlichkeit und Sympathie, darin Robert sich bewegte, verloren auch die unruhevollen Gedanken allmählich ihre Macht über ihn, und manchmal, unter einem nach allen Seiten aufgehellten Himmel, glaubte er sich unbedenklich der Zukunft entgegenfreuen zu dürfen.
Doch in einer Nacht, nach einem geselligen Abend im Hause seines Bruders, geschah es ihm nach geraumer Zeit zum ersten Male wieder,
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