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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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auf Rettung. »Ich habe mich niemals vorher so wohl gefühlt«, wiederholte er mit Betonung »Also mach dir um meinetwillen keine Sorgen, ich versichere dich, daß ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen möchte.«
    Ottos Antlitz war unbeweglich geblieben. »Nun, so ist ja alles in Ordnung«, sagte er. Es klang wie zerstreut. Und dann, als fiele es ihm eben erst ein, brachte er aus einer Tasche seines Überrocks ein zusammengefaltetes Papier hervor. »Daß ich nicht vergesse«, sagte er leichthin, »da ist dein Brief.« – »Was für ein Brief?« fragte Robert, der sich im ersten Augenblick tatsächlich nicht zu besinnen vermochte. – »Den du gestern von mir verlangt hast. Ich habe ihn glücklicherweise noch vorgefunden. Hier ist er, vergewissere dich nur«, fügte er lächelnd hinzu, »ob ich nicht etwa einen anderen untergeschoben habe.«
    Robert atmete tief auf, wie wenn ihm ein Gnadengeschenk geworden wäre. Seine Augen feuchteten sich, er konnte seiner Tränen nicht Herr werden, und unwiderstehlich hingezogen sank er dem Bruder schluchzend an die Brust. Eine Weile lag er so und spürte, wie gute, etwas schüchterne Hände ihm leise über die Haare strichen, so daß er ferner Kinderzeiten und längst vergessener elterlicher Zärtlichkeiten gedenken mußte. Plötzlich aber – er war dieses wundersamen Gefühls von Geborgenheit sich kaum bewußt geworden – fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: Was bedeutet das? Warum hat er den Brief herausgesucht? Warum hat er ihn mir wiedergebracht? Will er mich in Sicherheit wiegen? Ja. Das ist's. Er nimmt es auch ohne Brief auf sich. Diesen Brief haben gewiß schon andere gesehen. Otto hat eine Abschrift genommen und sie vom Notar beglaubigen lassen. Er bedarf des Originals nicht mehr. Nun denkt er, daß ich ihm nicht mehr entgehen kann. Nun bricht er den Stab über mich. Seine Hände streicheln über mein Haar; nicht Segen bedeutet das – sondern Abschied und Urteil. Zugleich wußte er, daß alles darauf ankam, sich jetzt nicht zu verraten. Und er blieb so lange am Halse seines Bruders hängen, bis er sich innerlich gefaßt und seine Züge zum Ausdruck beruhigten Ernstes geordnet hatte. Dann machte er sich los und blickte seinem Bruder heiter ins Antlitz, das nun ein blasses, maskenhaftes Lächeln zeigte. War Otto in diesem Augenblick schon völlig entschlossen, zu tun, wozu ihm jener Brief, den er hinterhältigerweise zurückgebracht, Vollmacht erteilte?
    Darüber war sich Robert nicht im klaren. Er wußte nur, daß dieser Entschluß, auch wenn er vielleicht für den Augenblick ins Schwanken geraten, im nächsten schon unwiderruflich sein konnte. Darum gab es nur eines mehr – Flucht. Flucht noch am heutigen Tage. Denn das Morgen schon konnte Verderben bringen. Wohin? Das war am Ende gleichgültig. Alles übrige würde sich linden, wenn er erst mit Paula die Stadt verlassen hätte. Seine Miene gehorchte ihm so sehr, daß sie von den Vorgängen in seinem Innern nicht das mindeste verriet. Den Brief, den Otto ihm gegeben, hielt er in der Hand, sah ihn flüchtig durch, ohne ihn eigentlich wieder zu lesen, zerriß ihn in kleine Stückchen, und mit einem humoristischen Lächeln zu seinem Bruder hin warf er sie in den Ofen. »Und nun wird es Asche«, sagte Otto bedeutungsvoll und mit einem Pathos, das sonst seine Art nicht war.
    Wie ungeschickt, dachte Robert und stieß mit dem Fuß die Ofentür zu.
    »Aber du solltest wohl längst im Amt sein«, meinte Otto in übertrieben frischem Ton. »Darf ich dich nicht hinbringen?« – »Danke. Ich gehe vor der Arbeit gern in der klaren Winterluft ein paar Schritte zu Fuß.« Er öffnete das Fenster, wie er sich vorgenommen, dann verließ er mit seinem Bruder das Zimmer.
    »Also wir rechnen zuversichtlich darauf«, sagte Otto auf der Stiege, »euch heute abend bei uns zu sehen. Nicht wahr?« Robert nickte. Nun war es ihm völlig War. Heute abend sollte es geschehen. Ein Pülverchen in den Wein oder in den Kaffee ... alles ist vorbei – und dann heißt es: es ist ein Herzschlag gewesen. Die einfachste Sache von der Welt. Wie oft mag sich dergleichen zutragen, und kein Mensch erfahrt davon.
    Am Tor reichte Otto dem Bruder nochmals die Hand, bat ihn, pünktlich zu sein, dann stieg er in den Wagen, nahm eilig eine Zeitung vor und war scheinbar schon tief ins Lesen versunken, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Robert bedachte, daß ihm jedenfalls die Zeit bis abend acht Uhr geschenkt war. Bis dahin drohte keinerlei Gefahr, und

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