Erzählungen
daß sie dem Doctor Ox einen Besuch abstatten und ihn hierbei auf delicate Weise über die Vorgänge am verflossenen Abend ausholen wollten; natürlich ohne ihre Absicht merken zu lassen.
Als die beiden Herren, ganz ihrer sonstigen Gewohnheit zuwider, diese Entscheidung getroffen hatten, schritten sie sofort zur Ausführung des Plans. Sie verließen das Haus und steuerten auf die Anstalt des Doctor Ox zu, die vor dem Andenarder Thor gelegen war.
Bürgermeister und Rath gaben sich zwar nicht den Arm, gingen aber
passibus aequis
in langsamem, feierlichem Schritt einher, so daß sie nur etwa dreizehn Zoll in der Secunde vorwärts kamen. Es war dies, nebenbei bemerkt, der gewöhnliche Amtsschritt ihrer Verwaltungsuntergebenen, die seit Menschengedenken nicht in eiligem Tempo durch die Straßen von Quiquendone gegangen waren.
Von Zeit zu Zeit, wenn die beiden Notabeln an einem Kreuzweg der ruhigen, stillen Straßen ankamen, blieben sie stehen, um die Leute zu berüßen.
»Guten Morgen, Herr Bürgermeister, sagte hier Jemand.
– Guten Morgen, lieber Freund, erwiderte leutselig Tricasse.
– Nichts Neues, Herr Rath? fragte ein Anderer.
– Durchaus gar nichts«, versetzte Niklausse.
Aber trotzdem sah man an einem gewissen fragenden Blick der Vorübergehenden, daß der scandalöse Auftritt vom vergangenen Abend bereits stadtbekannt geworden war, und auch der Stumpfsinnigste aller Quiquendonianer hätte durch die von den Herren eingeschlagene Richtung sofort errathen, daß ihr Gang mit dem betreffenden Ereigniß zusammenhing. Es hatten sich übrigens, trotzdem die Sache allgemein besprochen wurde, noch keine Parteien gebildet, denn sowohl Arzt wie Advokat waren in Quiquendone sehr geachtete Persönlichkeiten. Und wie sollten sie auch nicht? Hatte doch der Advokat Schut in dieser Stadt, wo Anwälte und Gerichtsdiener nur
pro forma
existirten, nie Gelegenheit gehabt, einen Proceß zu führen und demzufolge nie einen verloren; und was den Arzt Custos anlangte, so war er ein sehr ehrenwerther Practicus, der die Patienten von allen Krankheiten heilte – natürlich aus genommen von derjenigen, an der sie starben. Es ist das eine leidige Gewohnheit, die von den Mitgliedern aller, Facultäten, in welchem Lande sie ihre Kunst auch betreiben mögen, angenommen worden ist.
Als Herr van Tricasse und Rath Niklausse am Audenarder Thor ankamen, hielten sie es für angemessen, einen kleinen Bogen um den baufälligen Thurm zu machen. Man war doch nicht darüber sicher, was passiren konnte.
»Ich glaube wirklich, daß er einstürzen wird, bemerkte Tricasse.
– Ich glaube es auch, gestand Niklausse.
– Wenn man ihn nämlich nicht stützt, fügte Tricasse hinzu, aber ob man ihn stützen soll, das ist eben die Frage.
– Und diese Frage müssen wir erörtern«, schloß der Rath.
Einige Augenblicke später langten die beiden Herren an der Thür der Anstalt an.
»Ist Doctor Ox zu sprechen?« fragten sie.
Natürlich war Doctor Ox für die ersten Behörden der Stadt immer zu sprechen, sie wurden gebeten, näher zu treten, und befanden sich bald in dem Zimmer des berühmten Physiologen.
Die beiden Notabeln hatten hier eine gute Zeit – es mochte eine Stunde sein – zu warten; zum ersten Mal in seinem Leben gab der Bürgermeister Zeichen von Ungeduld, und auch sein Begleiter fühlte sich nicht ganz frei von solchen Anwandlungen.
Endlich trat Doctor Ox ein und entschuldigte sich, daß er die Herren so lange habe warten lassen; es sei ihm eben der Plan zu einem Gasometer vorgelegt worden, an dem eine Verzweigung zu rectificiren gewesen wäre u.s.w.
Üebrigens ging Alles rüstig vorwärts, die für das Oxygen bestimmten Leitungen seien bereits gelegt, und binnen wenigen Monaten würde die Stadt mit brillanter Beleuchtung ausgestattet sein. Die beiden Notabeln hatten schon mit Genugthuung die Röhrenmündungen bemerkt, die in das Arbeitszimmer des Doctors ausliefen.
Sodann erkundigte sich der Doctor nach dem Motiv, das ihm die Ehre verschaffe, den Herrn Bürgermeister und Rath Niklausse bei sich zu sehen.
»Nun, wir wollten einmal bei Ihnen vorsprechen, um Sie zu sehen, Herr Doctor, begann Tricasse; es ist geraume Zeit her, daß wir das Vergnügen hatten. In unserer guten Stadt Quiquendone kommen wir wenig aus dem Hause, und unsere Schritte sind genau abgemessen. Wir finden es eben am besten, wenn das Gleichgewicht durch nichts gestört wird.«
Niklausse sah seinen Freund erstaunt an; niemals, so lange er ihn kannte, hatte der
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