Erzählungen
Quiquendonianer waren sie doch schon recht nett. Ach diese Flamänder! Nun, Sie werden sehen, Ygen, was wir noch an ihnen erleben werden.
– Undankbarkeit werden wir an ihnen erleben, sagte Gédéon Ygen im Ton eines Menschen, der das Geschlecht der Erdenbürger nach seinem richtigen Werth zu schätzen weiß.
– Bah! rief der Doctor, ob sie uns Dank wissen oder nicht, wenn nur unser Versuch gelingt.
– Ist übrigens nicht für die Lungen der guten Leute in Quiquendone zu fürchten, wenn wir in ihren Respirationsapparaten solche Aufregung hervorrufen?
– Schlimm für sie, meinte Doctor Ox; es geschieht eben im Interesse der Wissenschaft. Was würden Sie, Ygen, dazu sagen, wenn es Hunden oder Fröschen auf einmal einfallen wollte, sich unseren Visectionsversuchen 1 zu widersetzen?«
Wenn man Frösche und Hunde um ihre Meinung in dieser Angelegenheit fragen wollte, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach gegen die Künste der Vivisectoren Einsprache erheben; aber Doctor Ox glaubte ein unwiderlegliches Argument ausgesprochen zu haben, denn er ließ einen gewaltigen Seufzer der Befriedigung hören.
»Sie haben eigentlich recht, Meister, erwiderte Gédéon Ygen überzeugt. Wir hätten nichts Besseres zu unserem Experiment finden können, als dies Quiquendone.
– Absolut nicht, bestätigte der Doctor mit nachdrücklicher Betonung.
– Haben Sie den Creaturen ihren Puls gefühlt?
– Wohl hundert Mal.
– Und die Durchschnittszahl der beobachteten Pulsschläge?
– Nicht fünfzig in der Minute. Verstehen Sie mich recht, Ygen, eine Stadt, in der seit einem Jahrhundert nicht der Schatten einer Discussion vorgekommen ist, in der die Fuhrleute nicht fluchen, die Kutscher sich nicht schimpfen, die Pferde nicht durchgehen, die Hunde nicht beißen, und die Katzen nicht kratzen! eine Stadt, in der das einfache Polizeigericht von einem Ende des Jahres bis zum anderen feiert! eine Stadt, in der man sich weder für Industrie noch Kunst interessirt! eine Stadt, in der die Gensdarmen in die Zeit der grauen Mythe gehören, und in der seit einem Jahrhundert kein Protokoll aufgenommen ist! eine Stadt endlich, in der seit dreihundert Jahren kein Faustschlag und keine Ohrfeige ausgetheilt wurde! Sie werden sich selber sagen können, Meister Ygen, daß dieser Zustand nicht länger fortdauern kann, und wir das Alles umgestalten müssen.
– Vorzüglich! ganz vorzüglich! rief der Famulus begeistert. Haben Sie auch schon die Luft hier in der Stadt analysirt, Meister?
– Ist bereits geschehen, versetzte Doctor Ox; neunundsiebzig Theile Stickstoff und einundzwanzig Theile Sauerstoff, Kohlensäure und Wasserdampf in veränderlicher Menge. Das sind die gewöhnlichen Verhältnisse.
– Gut, Doctor, gut; der Versuch wird im Großen angestellt werden und jedenfalls entscheidend sein, meinte schließlich Ygen.
– Und wenn er entscheidend ist, rief Doctor Ox triumphirend, werden wir die Welt reformiren.«
Fußnoten
1 Zergliederung lebender Thiere.
Fünftes Capitel, in welchem Bürgermeister und Rath dem Doctor Ox einen Besuch abstatten, und was sich darauf zuträgt.
Rath Niklausse und der Bürgermeister van Tricasse erfuhren endlich einmal, was eine aufgeregte Nacht bedeutet; der bedenkliche Vorgang im Hause des Doctor Ox verursachte Beiden wirkliche Schlaflosigkeit. Was würde diese Angelegenheit für Folgen haben? man konnte bis jetzt noch nichts Bestimmtes darüber in’s Auge fassen. Wäre vielleicht eine Entscheidung zu treffen? Würden sie, als Vertretung der Municipalgewalt, genöthigt sein, sich in’s Mittel zu schlagen? Sollten Edicte erlassen werden, damit ein derartiges Ereigniß nicht wieder vorkäme?
All diese Zweifel beunruhigten die weichen Naturen der beiden Räthe nur noch mehr. Uebrigens hatten sie an dem denkwürdigen Abend, bevor sie sich trennten, noch »entschieden«, daß sie sich am andern Morgen wieder zusammenfinden wollten.
Am folgenden Morgen begab sich also der Bürgermeister schon vor dem Mittagessen in Person zu dem Rath Niklausse. Er hatte die Genugthuung, seinen Freund ruhiger zu finden, und auch er selbst gewann nach und nach seine Fassung wieder.
»Nichts Neues? fragte Tricasse.
– Seit gestern nichts Neues.
– Und der Arzt Dominique Custos?
– Ich habe ebenso wenig von ihm wie von dem Advokaten André Schut etwas gehört.«
Nach einer Unterhaltung, die etwa eine Stunde währte, sich aber ohne Mühe in drei Zeilen zusammenfassen ließe, wurde von Bürgermeister und Rath beschlossen,
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