Erzählungen
Thüre öffnete sich, und wie ein wilder Orkan fegte Commissar Passauf in das Vorzimmer.
»Was giebt’s, Herr Commissar? fragte Lotchè, ein braves Mädchen, das auch in den schwierigsten Zeitläuften den Kopf oben behielt.
– Was es giebt? rief Passauf und seine Augen drückten eine wirkliche, wahrhaftige Aufregung aus, nun, ich komme soeben vom Doctor Ox, der heute Gesellschaft hatte, und dort…
– Und dort? inquirirte der Rath.
– Dort bin ich Zeuge eines Wortstreits gewesen, eines Wortstreits, der… Herr Bürgermeister, man hat von Politik gesprochen!
– Von Politik! wiederholte entsetzt der Bürgermeister, und die Haare seiner Perrücke sträubten sich empor.
– Von Politik! bestätigte Passauf; seit vielleicht hundert Jahren ist das in Quiquendone nicht vorgekommen! Die Discussion ist schärfer und schärfer geworden, und zuletzt sind der Advokat André Schut und Doctor Dominique Custos so heftig an einander gerathen, daß ein Duell wohl unvermeidlich sein wird.
– Ein Duell! rief der Rath; ein Duell in Quiquendone! Beleuchten Sie die Sache näher, was für Reden haben Advocat Schut und Doctor Custos gegen einander geführt?
– Ich will es wörtlich wiederholen: ›Herr Advocat, sagte der Arzt, Sie gehen, wie mir scheint, etwas zu weit und denken nicht genug daran, Ihre Worte abzuwägen!‹«
Der Bürgermeister van Tricasse faltete entsetzt die Hände; der Rath war erblaßt und hatte vor Schreck seine Laterne fallen lassen. Der Commissar schüttelte das Haupt. Eine so offenbar herausfordernde Redensart zwischen zwei Notabeln des Landes!
»Ich habe es lange gewußt, sagte der Bürgermeister in gedämpftem Tone, dieser Arzt ist ein gefährlicher Mensch, ein ganz entschiedener Hitzkopf. Treten Sie näher, meine Herren!«
Und Rath Niklausse, der Commissar und Herr van Tricasse begaben sich in den Saal zurück.
Viertes Capitel, in dem sich Doctor Ox als Physiolog ersten Ruges und als kühner Experimentator erweist.
Wer war der Doctor Ox, diese Persönlichkeit, die unter so sonderbarem Namen schon mehrmals in unserer Erzählung erwähnt wurde?
Jedenfalls ein Original, zugleich aber ein genialer Gelehrter, ein Physiolog, dessen Arbeiten in der ganzen Gelehrtenwelt Europas hoch angesehen waren; der glückliche Nebenbuhler eines Davy, Dalton, Bostock, Menzies, Godwin, Vierordt und all der geistvollen Männer, welche die Physiologie in der neuern Zeit zu einer Wissenschaft ersten Ranges erhoben hatten.
Doctor Ox war von mittlerer Größe, mittlerer Stärke, im Alter von… aber nein, wir können seine Jahre ebenso wenig wie seine Nationalität genau bestimmen. Auch thut das nichts zur Sache; es ist genug, wenn wir wissen, daß Doctor Ox ein eigenthümlich heißblütiger, excentrischer Mensch war, den man in Verdacht haben konnte, daß er einem Bande Hoffmanns entsprungen sei. Daß dieser Mann mit den Bewohnern von Quiquendone einen eigenthümlichen Contrast bildete, bedarf nach dieser Beschreibung keines besonderen Wortes.
Auf sich und seine Lehren setzte Doctor Ox ein unerschütterliches Vertrauen, und wenn er mit erhobenem Haupt und lächelndem Blick, den hübschen, schlanken Schultern und weitgeöffneten Nüstern einherging und in mächtigen Zügen mit seinem großen Munde die Luft einsog, machte er einen gefälligen Eindruck. Er war lebhaft, sehr lebhaft sogar, durchaus proportionirt munter und hatte Quecksilber in den Adern und hundert Nadeln in den Füßen. Es war ihm unmöglich, längere Zeit ruhig an einer Stelle zu bleiben, und leidenschaftliche Geberden wie übereilte Worte entfuhren ihm in Menge.
War dieser Doctor Ox denn reich, daß er auf eigene Kosten die Beleuchtung der ganzen Stadt bestreiten wollte?
Doch wohl, da er sich solche Ausgaben gestatten konnte. Aber dies ist auch die einzige Antwort, die wir auf solche indiscrete Frage geben können.
Doctor Ox hatte sich seit fünf Monaten in Quiquendone niedergelassen, und zwar in Gesellschaft seines Famulus Gédéon Ygen, der nicht weniger lebhaft als sein Herr, aber ein großer, schmaler, hagerer Mann war.
Weshalb nun hatte dieser Doctor Ox, und noch dazu auf seine eigene Kosten, die Beleuchtung der Stadt in Submission genommen, und warum gerade die Quiquendonianer, diese Flamänder aller Flamänder, auserwählt, um sie mit den Wohlthaten seiner alles übertreffenden Beleuchtung zu beglücken? Wollte er unter diesem Vorwande ein großes physiologisches Experiment erproben und so
in anima vili
arbeiten? Auf all diese Fragen
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