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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Quiquendone eine kleine Nachbarstadt mit Namen Virgamen hatte, und das Territorium der beiden Gemeinden dicht an einander grenzte.
    Nun war es geschehen, daß zur Zeit des Grafen Balduin, kurz vor dem Kreuzzuge im Jahre 1185, eine Kuh, und zwar eine Gemeindekuh, was wohl zu beachten ist, aus Virgamen herübergekommen war und auf dem Gebiet von Quiquendone gegrast hatte. Die unglückliche Wiederkäuerin hatte wohl kaum »Von der Wiese einen Raum, drei Mal so breit wie ihre Zunge abgeschoren« 1 , aber die Uebertretung, das Vergehen, die Unthat, oder wie man es nennen will, war begangen worden, und durch ein zu jener Zeit aufgenommenes Protokoll constatirt, denn schon damals singen die Behörden an, sich der Schreibekunst zu bedienen.
    »Der Augenblick, da wir uns rächen werden, wird dereinst kommen, hatte Natalis van Tricasse, der zweiunddreißigste Vorgänger des gegenwärtigen Bürgermeisters, im Anno 1185 bemerkt; den Virgamenern soll ihre verdiente Strafe nicht geschenkt werden!«
    Aber da die Virgamener bis jetzt auf ihre angekündigte Rache gewartet hatten, ohne daß irgend ein Schritt von Seiten der Quiquendonianer erfolgt wäre, glaubten sie nicht ohne Grund, daß die Erinnerung an das ihnen zugefügte Unrecht mit der Zeit erstorben sei, und lebten nun bereits seit mehreren Jahrhunderten im besten Einvernehmen mit ihren Nachbarn.
     

    »Nach Virgamen! Nach Virgamen!« (S. 67.)
     
    Sie rechneten jedoch ohne den Wirth, oder vielmehr ohne die sonderbare Epidemie, die den Charakter der Quiquendonianer so radical verändert und in ihrem Herzen das lange schlummernde Rachegefühl angefacht hatte.
    Im Club der Monstrelet-Straße warf der hitzige Advocat Schut seinen Zuhörern plötzlich die betreffende Frage in’s Gesicht und entflammte ihren Zorn, indem er sich auf’s freigebigste all der Metaphern und Floskeln bediente, die bei solchen Gelegenheiten an der Tagesordnung zu sein pflegen. Er erinnerte an das Delictum, erinnerte an das gegen die Gemeinde Quiquendone begangene Unrecht und machte darauf aufmerksam, daß man bei einer »auf ihre Rechte eifersüchtigen Nation« keine Verjährung statuiren dürfe. Er wies auf die schreiende Beleidigung, die noch immer blutende Wunde hin, sprach von einem gewissen eigenthümlichen Kopfschütteln der Einwohner von Virgamen, das schon genugsam zeige, wie sehr sie die Quiquendonianer verachteten; er warf seinen Landsleuten vor, daß sie bereits Jahrhunderte lang diese Beschimpfung ertragen hätten, und beschwor die Kinder der altehrwürdigen Stadt, kein anderes Objectiv mehr zu haben, als eine glänzende Genugthuung für die erlittene Schmach! Endlich appellirte er an »alle lebendigen Streitkräfte« der Nation.
    Der Enthusiasmus, mit welchem diese für quiquendonianische Ohren so ungewohnten Worte aufgenommen wurden, war unbeschreiblich; alle Zuhörer hatten sich von ihren Sitzen erhoben und verlangten mit heftigen Gesticulationen und lautem Geschrei »Krieg!« Nie hatte Advocat Schut bis jetzt einen solchen Erfolg gehabt; derselbe war in der That brillant!
    Der Bürgermeister, der Rath und alle Notabeln, die dieser denkwürdigen Scene beiwohnten, wären außer Stande gewesen, dem Drängen des Volkes Einhalt zu thun, auch wenn sie das wirklich gewollt hätten. Dies Letztere war jedoch durchaus nicht der Fall, und sie schrieen, wenn möglich, noch lauter wie alle anderen:
    »Nach der Grenze! Nach der Grenze!«
    Die Grenze war aber nur drei Kilometer von Quiquendone entfernt, und so konnten die Virgamener wirklich in Gefahr kommen, überfallen zu werden, noch ehe sie sich irgendwie darauf vorbereitet hatten. –
    Indessen bemühte sich der ehrenwerthe Apotheker, Herr Josse Liefrink, der bei diesen bedenklichen Verhandlungen allein den Kopf oben behalten hatte, seinen Mitbürgern begreiflich zu machen, daß es zu einem Kriege an Gewehren, Kanonen und Generalen mangele; als Antwort wurde ihm jedoch nur die Versicherung, daß man in diesem Falle auch Feldherren und Gewehre improvisiren könne, und daß schon die Begeisterung für die gute Sache und der Patriotismus ein Volk unwiderstehlich mache.
    Hierauf nahm der Bürgermeister selbst das Wort; er hielt eine Rede aus dem Stegreif, saß zu Gericht über feigherzige Leute, die ihre Furcht unter dem Schleier der Vorsicht zu verbergen strebten, und zerriß diesen Schleier mit kühner, patriotischer Hand.
    Es hätte Niemanden Wunder nehmen können, wenn der Saal in diesem Augenblicke unter dem donnernden Beifallslärm

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