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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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lustig gemacht und mir ein altes Programm angedreht.
    So nahm ich die Sache als Philosoph hin und ging meines Wegs.
    Wie groß war meine Verwunderung, als ich an der Ecke der Rue Lemerchier anlangte und sah, dass sich diese Straße über die Grenzen meines Sichtfeldes erstreckte! Mir bot sich jetzt eine lange Reihe von Häusern dar, deren letzte hinter der Krümmung der Steigung verschwanden. War ich etwa in Rom, am Eingang des Corso? Sollte dieser Corso auf neue Boulevards stoßen? War denn da ein ganzes Viertel mit seinen Gebäuden und Kirchen wie eine Kryptogame aus dem Boden gewachsen, und das im Laufe einer einzigen Nacht?
    Dem musste wohl so sein, denn ich sah Omnibusse, ja wohl: Omnibusse –
Linie F, Notre Dame bis Wasserwerk
– die die Straße mit ihren Ladungen an Reisenden entlangfuhren. 5
    »Meiner Treu«, sagte ich mir, »ich werde mal den Akzisenbeamten 6 fragen, was das alles zu bedeuten hat!«
    So wandte ich mich zur Brücke, die einer unserer ehemaligen Kollegen so elegant über die Eisenbahnlinie der Nordgesellschaft gezogen hat.
    Fort, der Akzisenbeamte! Aus welchem Grund? War seit gestern der Posten an einen neuen Stadtring verlegt worden? Das würde ich ja sehen! Wenn es auch keinen Akzisenbeamten am Südende der Brücke mehr geben mochte, so würde doch am Nordende noch der alte Bettler sein, und dieser brave Mann würde mir Auskunft geben …
    Ich ging los. Ein Zug fuhr mit geringer Geschwindigkeit vorbei. Schrilles Pfeifen durchschnitt die Luft, und mit ohrenbetäubendem Lärm ließ es der Lokomotivführer durch die Zylinder zischen.
    War das eine Täuschung meiner Augen? Die Waggons schienen mir nach amerikanischer Art konstruiert zu sein, mit Stiegen, die es den Reisenden erlaubten, von einem Ende des Zuges zum anderen zu gelangen. Ich suchte die Initialen der Gesellschaft auf den Seitenwänden der Wagen zu lesen; aber statt des N für Nord sah ich die P und F für Picardie und Flandern! Was hatte dieser Wechsel zu bedeuten? War etwa die große Gesellschaft von der kleinen geschluckt worden? Sollten wir jetzt beheizte Waggons haben, selbst wenn es – gegen alle offiziellen Vorschriften – im Oktober schon kalt war? Hätten wir nun etwa sorgfältig gesäuberte Abteile? Sollten, wie in der guten alten Zeit, Hin-und Rückfahrkarten zwischen Amiens und Paris ausgestellt werden?
    Dies waren die hauptsächlichen Vorteile, die sich vor meinem inneren Auge als Folgen der Übernahme der Nordkompanie durch die Picardie-und-Flandern-Gesellschaft abzeichneten! 7 Aber mit Einzelheiten von derartiger Unwahrscheinlichkeit konnte ich mich nicht weiter aufhalten. Ich lief zum andern Ende der Brücke …
    Kein alter Bettler! Jener Mann mit den nach außen gekehrten Füßen und weißem Bart, der mit fünfzig Hutschlägen in der Minute funktioniert, war nicht mehr da.
    Alles, meine Damen und Herren, hätte ich hingenommen, ja wohl: alles, nur nicht das Verschwinden des guten Bettlers! Er schien mir ein unverzichtbarer Bestandteil der Brücke zu sein. Ach, weshalb war er nicht an seinem angestammten Platze? Zwei doppelt gewundene Steintreppen ersetzten nun die Ziegenstiege, die noch gestern Zugang zum öffentlichen Garten geboten hatte, und was hätte der gute Bettler für Einnahmen gehabt angesichts der Masse von Lustwandelnden, die sie hoch-und hinabstiegen!
    Der Sou, den ich in seinen Hut zu legen gedachte, fiel mir aus der Hand. Beim Berühren des Bodens gab er ein metallenes Geräusch von sich, so als wäre er auf einen harten Körper gestoßen statt auf die weiche Erde des Boulevards!
    Ich blickte nach unten. Eine mit Porphyrwürfeln bepflasterte Chaussee durchschnitt quer die Promenade!
    Welch eine Veränderung! Sollte diese Ecke von Amiens etwa nicht mehr den Namen »Kleines Lutetia« verdienen? 8 Wie – man sollte bei Regenwetter da durchgehen können, ohne bis zum Knöchel tief im Matsch steckenzubleiben? Kein Waten mehr durch jenen lehmigen Schlamm, der den Bewohnern des Viertels so sehr verhasst ist?
    Voller Wonne trat ich auf dieses städtische Pflaster und ich fragte mich, meine Damen und Herren, ob Dank irgendeiner neuen Revolution die Bürgermeister seit gestern wohl vom Ministerium für öffentlichen Bauarbeiten bestimmt wurden!
    Und das war noch nicht alles! An jenem Tag waren die Boulevards zu einer mit Sachverstand ausgewählten Stunde gewässert worden – nicht zu früh und nicht zu spät –, was es weder dem Staub erlaubte, sich zu erheben, noch dem Wasser, sich auszubreiten, als die

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