Erzählungen
Dissonanzen! Von ähnlicher Wirkung, als würden die Instrumente im Orchester gestimmt werden, ehe der Dirigent mit seinem Taktstock auf das Pult klopft!
Um mich herum standen Spaziergänger in kleinen Gruppen und applaudierten, wie ich sonst nur bei Turnübungen habe applaudieren hören.
»Aber das ist ja Zukunftsmusik!« schrie ich unwillkürlich. »Sollte ich denn außerhalb der Gegenwart stehen?«
So schien es, denn als ich mich dem Anschlagzettel mit der Aufzählung der Musikstücke näherte, las ich den bestürzenden Titel:
»Nr. 1 –
Träumerei in a-Moll über das Quadrat der Hypotenuse.
«
Ich begann, mir Sorgen über mich selbst zu machen! Hatte ich den Verstand verloren? Und wenn nicht, würde dergleichen nicht noch geschehen? Ich flüchtete – mit hochroten Ohren. Ich brauchte frische Luft, Bewegungsfreiheit, verlangte nach der Wüste und ihrer uneingeschränkten Stille! Der Longueville-Platz war nicht weit! Ich hatte es eilig, zu dieser kleinen Sahara zu kommen! Lief dorthin …
Eine Oase! Große Bäume spendeten erfrischenden Schatten. Grünende Teppiche breiteten sich unter Blumenmassen aus.
Die Luft mit Wohlgeruch erfüllt. Ein hübsches Bächlein murmelte inmitten all dieser Vegetation. Aus der verkommenen Wassernymphe aus vergangenen Zeiten quoll nunmehr kristallklares Nass. 10 Ohne die geschickt angebrachten Auffangbecken wäre das Bassin über die Ränder getreten und hätte sicher die ganze Stadt unter Wasser gesetzt. Das war kein Wasser aus einem Märchenspiel, Faserglas oder gemalte Gaze – nein! Das war die althergebrachte chemische Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff, frisches, trinkbares Wasser, in dem sich Tausende kleiner Fische tummelten, die gestern noch keine einzige Stunde darin hätten überleben können! Ich tauchte meine Lippen in dieses Wasser, das sich bislang jeder Analyse widersetzt hätte, und wäre es zuckersüß gewesen, meine Damen und Herren, dann hätte ich das in dem Zustand der Überreizung, in dem ich mich befand, für ganz natürlich befunden!
Ich schaute mir noch einmal die feuchte Wassernymphe an, so wie man ein übersinnliches Phänomen betrachtet, und richtete meine Schritte in Richtung der Rue des Rabuissons 11 , mit der bangen Frage, ob es diese Straße wohl noch geben möge.
Links jedenfalls erhob sich ein großes Gebäude mit sechs Seiten und einem prächtigen Eingang. Das diente gleichzeitig als Zirkus und Konzertsaal, groß genug, um dem Gesangsverein, der Philharmonischen Gesellschaft, allen Musikvereinen aus Amiens und Umgebung einschließlich des Chors der Freiwilligen Feuerwehr zu erlauben, ihre Klänge zu vereinigen. 12
In diesem Saal – das war nicht zu überhören – applaudierte eine riesige Menge und drohte, denselben zum Einsturz zu bringen. Bis nach draußen stand eine lange Schlange an, in die sich der Enthusiasmus des Publikums fortpflanzte. Am Eingang hingen riesige Plakate mit folgendem Namen in übergroßen Lettern:
PIANOWSKI
Pianist des Kaisers der Sandwich-Inseln
Ich kannte weder diesen Kaiser noch seinen Hofvirtuosen.
»Wann ist Pianowski denn eingetroffen?«, fragte ich einen Musikliebhaber, der sich durch die außergewöhnliche Größe seiner Ohren verriet.
»Er ist nicht angekommen«, antwortete mir das Kind dieser Stadt und musterte mich mit verständnisloser Miene.
»Und wann kommt er?«
»Er wird nicht kommen«, antwortete der Musikliebhaber. Und diesmal blickte er mich an, als wollte er mir die Frage stellen: »Und Sie, wo kommen Sie bitte her?«
»Aber wenn er nicht kommt, wann wird er denn sein Konzert geben?«
»Er gibt es in diesem Augenblick!«
»Hier?«
»Ja wohl, hier in Amiens und gleichzeitig in London, Wien, Rom, Sankt Petersburg und Peking!«
»Na, na!« dachte ich, »diese Leute sind doch verrückt! Hätte man etwa die Insassen der Anstalt von Clermont entkommen lassen?«
»Mein Herr …«, fuhr ich fort.
»Werter Herr«, entgegnete der Musikliebhaber und zuckte dabei mit den Schultern, »lesen Sie doch den Anschlag! Sehen Sie nicht, dass es sich um ein elektrisches Konzert handelt?«
Ich las das Plakat! … In der Tat spielte der berühmte Elfenbeinklöppler Pianowski in dieser Minute im Pariser Hertz-Saal; aber mittels elektrischer Leitungen stand sein Instrument mit Klavieren in London, Wien, Rom, Petersburg und Peking in Verbindung. Sobald er eine Note anschlug, erklang derselbe Ton auf der Klaviatur der weit entfernten Pianos, auf denen sich jede Taste durch
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