Erzählungen
ersten Spaziergänger vorbeiströmten! Und die asphaltierten Seitenalleen boten den Füßen einen Grund, der so angenehm zu begehen war wie die Pariser Champs-Élysées! Zwischen den Bäumen standen Doppelbänke mit Rückenlehne und diese Bänke waren nicht durch die Ungeniertheit der Kinder und die Nachlässigkeit der Ammen verschmutzt! Und alle zehn Schritte erhoben Bronzekandelaber ihre eleganten Laternen bis in die Wipfel der Linden und Kastanienbäume!
»Herr mein Gott!«, rief ich aus, »wenn diese schönen Promenaden nun ebenso gut erleuchtet wie gepflegt sein sollten und Sterne erster Größenordnung statt der alten, gelblich schimmernden Gasapparate leuchten, dann steht in der besten aller bestmöglichen Städte wirklich alles zum besten!«
Der Verkehr war enorm auf den Boulevards. Herrliche Equipagen, Daumont-Kutschen und Vierspänner mit zwei Postillons im Sattel rollten die Chausseen entlang. Ich hatte einige Schwierigkeiten, mir einen Weg zu bahnen. Aber merkwürdig war, dass ich unter all diesen Verwaltungsbeamten, Händlern, Anwälten, Ärzten, Notaren, Rentiers niemanden erkannte, den ich gewöhnlich das Vergnügen hatte, auf den Promenadenkonzerten anzutreffen; niemanden unter den Offizieren, die nicht mehr dem 72. Regiment angehörten, sondern dem 324. und die mit neuartigen Tschakos bekleidet waren; niemanden unter den schönen Damen, die es sich auf Stühlen mit elastischen Lamellen bequem gemacht hatten!
Und was waren das überhaupt für merkwürdige Personen, die durch die Seitenwege spazierten und dabei mit der Extravaganz ihrer Toiletten der neuesten Mode vorauseilten, die ich in Paris gesehen hatte? Was für Puffe in Gestalt künstlicher Blumen, die Sträußen glichen, welche man, etwas tief vielleicht, unterhalb der Taille angebracht hatte! Was für lange Schleppen auf kleinen Metallrollen, die liebenswürdig über den Sand schlingerten! Was für Hüte voll von verwickelten Lianen, wuchernden Pflanzen, tropischen Vögeln, Schlangen und Jaguaren in Miniaturgestalt, von denen der brasilianische Urwald nur eine unzureichende Vorstellung hätte geben können! Was für Chignons von so Ehrfurcht gebietenden Ausmaßen und so beträchtlichem Gewicht, dass die wunderlichen Damen sie in kleinen Weidenrutenkörben tragen mussten, die abgesehen davon mit tadellosem Geschmack herausgeputzt waren! Zu guter Letzt polnische Schnürröcke, deren Kombinationen aus Falten, Schnüren und Spitzen schwieriger wiederhergestellt hätten werden können als Polen selbst!
Reglos blieb ich stehen! All diese Leute schritten wie ein Geleitzug aus einem Feenspiel an mir vorbei. Mir fiel auf, dass man weder junge Männer über achtzehn Jahre sah noch junge Mädchen, die älter waren als sechzehn. Nur noch verheiratete Pärchen, die sich verliebt die Arme reichten, und ein Gewimmel kleiner Kinder, wie es dergleichen wohl noch nie gegeben haben mochte, seitdem sich das Menschengeschlecht nach dem Willen des Allmächtigen fortpflanzte!
»Herrgott«, rief ich wieder aus, »wenn Kindersegen über alles hinwegtröstet, dann ist Amiens gewiss die Stadt des Trostes schlechthin!«
Plötzlich hörte ich seltsame Klänge. Die Trompeten bliesen. Ich richtete meine Schritte auf die wurmstichige Bühne, die seit unvordenklichen Zeiten unter den Füßen der Kapellmeister zittert! …
An der Stelle der erwähnten Estrade erhob sich ein eleganter Pavillon, der von einer anmutigen Veranda gekrönt wurde. Am Fuße des Pavillons breiteten sich terrassenartig die Sitzgelegenheiten aus, zwischen denen Gänge sowohl zu den Boulevards als auch zu abwärts liegenden Parkanlagen führten.
Das Souterrain wurde von einem herrlichen Café von ultramoderner Pracht eingenommen. Ich rieb mir die Augen und fragte mich, ob sich Féragus Projekt zur großen Freude des wackeren Künstlers endlich realisiert haben sollte, und das im kurzen Zeitraum einer einzigen Nacht unter dem Einfluss irgendeines Zauberstabs. 9
Aber ich hatte es längst aufgegeben, eine Erklärung für absolut unerklärliche Dinge zu suchen, die dem Reich der Phantasie angehören. Die Kapelle des 324. Regimentes spielte ein Stück, das nichts Menschliches an sich hatte – Himmlisches allerdings auch nicht mehr! Auch hier war alles anders geworden! Es gab keine musikalische Unterteilung mehr im Tonsatz, keinerlei Form! Weder Melodie noch Takt noch Harmonie! Ausuferndes über Unermessliches, hätte Victor Hugo gesagt! Potenzierter Wagner! Tönende Algebra! Der Triumph der
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