Erzählungen
machten.
Weiter hinten, von Dienern umgeben, schleppte sich eine arme hübsche Rättin. Das war Ratine, aber so bewacht und abgeschirmt, daß sie an Flucht gar nicht denken konnte. Ihre sanften Augen waren mit Tränen gefüllt und verrieten mehr, als ich es je könnte. Gardafur marschierte in ihrer Nähe und ließ sie nicht aus den Augen. Ha! Diesmal hielt er sie fest in der Hand!
»Ratine … meine Tochter! …«, »Ratine, meine Verlobte!« schrien Ratonne und Ratin und versuchten, bis zu ihr vorzudringen – ohne Erfolg.
Da hätte man das Grinsen sehen sollen, mit dem der Prinz Kissador die Familie Raton empfing, und den herausfordenden Blick, den Gardafur der Fee Firmenta entgegenschleuderte.
Sie war besiegt worden, die ohnmächtige Zauberin! Obschon seiner Zaubermacht entledigt, hatte er triumphiert, mit weiter nichts als einer natürlichen Falle, einer simplen Rattenfalle. Und währenddessen beglückwünschten die Edelleute den Prinzen zu seiner neuen Eroberung. Mit welchem Dünkel der Narr diese Komplimente entgegennahm, das überlasse ich eurer Vorstellung.
Plötzlich streckt die Fee den Arm aus, schwingt ihren Zauberstab, und augenblicklich ereignet sich eine neue Verwandlung.
Raton ist wohl Ratte geblieben, aber Madame Ratonne ein Papagei geworden, Rata ein Pfau, Ratane eine Gans und Vetter Raté ein Reiher. Aber der hat mal wieder Pech gehabt, und statt eines schönen Vogelschwanzes zappelt unter seinem Gefieder ein jämmerlicher Rattenschwanz!
Zugleich erhebt sich aus der Gruppe der Edelmänner leichtbeschwingt eine schöne Taube: Ratine!
Wie soll man die Verblüffung des Prinzen Kissador und die Wut des Zauberers Gardafur beschreiben! Und schon nehmen alle, Höflinge und Diener, Ratines Verfolgung auf, die mit leichtem Flügelschlag entkommt.
Aber die Bühne hat gewechselt. Wir sind nicht mehr auf dem großen Platz von Rattopolis, sondern in einer großartigen Landschaft, umrahmt von hohen Bäumen. Aus allen Himmelsrichtungen kommen Tausende Vögel heran, um ihre neuen Fluggefährten zu begrüßen.
Schon gibt sich Ratonne, voller Stolz auf ihr Gefieder und glücklich über ihr Gekrächz, den anmutigsten Freudensprüngen hin, während die gute Ratane ganz beschämt nicht weiß, wo sie ihre Gänsepatschen verstecken soll.
An ihrer Seite schlägt Rata – Herr Rata, bitteschön! – das Rad, als wäre er schon sein ganzes Leben Pfau gewesen, während der arme Raté seinen kümmerlichen Rattenschwanz betrachtet und leise vor sich hinmurmelt:
»Wieder mißraten! … Immer mißraten! …«
Der Himmel erstrahlt in seinen schönsten Gluten, als würde er von der Pracht des Nordlichts überflutet. Die Blätter der Bäume beginnen zu leuchten, und es sind ebenso viele Sterne, die sanft im Luftstrom vibrieren, dessen Hauch ihre tausend Farben belebt.
Aber da durchfliegt eine Taube das Himmelreich, stößt freudige kleine Schreie aus, beschreibt elegante Kreise und setzt sich sanft auf die Schulter des schönen Jünglings.
Das ist die entzückende Ratine, und man kann verstehen, wie sie ihrem Verlobten flügelschlagend ins Ohr flüstert:
»Ich liebe dich, mein Ratin, ich liebe dich!«
IX
Wo wir sind, meine lieben Kinder? Immer noch in einem dieser Länder, die ich nicht kenne und deren Namen ich nicht weiß! Aber dieses hier ist sehr schön, und ich kann euch nur raten, es einmal zu besuchen. Mit seinen weiten Landschaften, die von Bäumen aus der tropischen Zone besäumt werden, und seinen Tempeln in buddhistischer Bauart, die etwas schroff vom tiefblauen Himmel abstechen, erinnert es an Indien, und seine Bewohner sind wohl Hindus. Jedenfalls sieht man die Bevölkerung, wie sie sich in die heiligen Flüsse taucht, um Wischnu anzubeten.
Betreten wir diese Karawanserei, eine Art riesige Herberge, die jedermann offensteht. Dort ist die Familie Raton wieder vollständig vereinigt. Auf Anraten der Fee Firmenta hat man sich auf die Reise begeben. Das sicherste war, Rattopolis zu verlassen, um der Rache des Prinzen Kissador und der Wut des Zauberers zu entkommen, solange man noch nicht stark genug ist, um sich zur Wehr zu setzen. Ratonne, Ratane, Ratine, Rata und Raté sind erst einfache Vögel. Sollen sie erst einmal Raubtiere werden, dann wird es nicht mehr so leicht sein, mit ihnen fertig zu werden!
Ja, einfache Vögel, unter denen die Gans gewordene Ratane einer der am wenigsten begünstigten ist. Darum watschelt sie auch allein über den Hof der Karawanserei. Ihre klagende Stimme ertönt und
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