Erzählungen
Unglückselige. Ganz vergebens versuchten sein Onkel Raton und seine Cousine Ratine, die ein gutes Herz hatten, ihn zu trösten. Er blieb dort in einer Ecke des Hofs, auf einem Fuß abgestellt, wie das die nachdenklichen Reiher zu tun pflegen, und zeigte den Vorderteil seines Körpers, dessen Weiß sich von seinen schwarzen Streifen abhob, sein aschgraues Federkleid, und seine melancholisch nach hinten geworfene Haube.
»Nein, Onkel Raton«, meinte er, »nein, Cousine Ratine, laßt mich!«
Und dann versuchte er sich zu verstecken, damit man nicht mehr seinen Nagerschwanz herumhängen sah. Oh, wie ungeduldig er darauf wartete, endlich ein Mensch zu werden, selbstverständlich in der Hoffnung, dadurch von diesem schwanzigen Zierstück erlöst zu werden, das nun einmal nur dem Tierreich ziemt.
Die Reise sollte jetzt fortgesetzt werden, damit man dies Land in seiner ganzen Schönheit bewundern konnte.
Aber Madame Ratonne und Herr Rata wollten nur sich selbst bewundern. Weder die eine noch der andere betrachteten die unvergleichlichen Landschaften. Sie suchten nichts anderes als einen Spiegel, um sich zu sehen, und ein großes Publikum, um gesehen zu werden.
Deshalb wollten sie auch lieber in die Städte und zu den Marktflecken, wo sie all ihre Anmut entfalten und die Lobhudeleien ihrer Schmeichler genießen könnten – ganz im Gegensatz zum jungen Ratin und zur schönen Taube, für die das Alleinsein soviel Reize bereithielt!
Darüber beratschlagte man gerade, als in der Tür der Karawanserei eine neue Person erschien.
Das war einer der einheimischen Fremdenführer, nach Hindumode angezogen, der den Reisenden seine Dienste anbot.
»Mein Freund«, fragte ihn Raton, »was gibt es denn Interessantes zu besichtigen?«
»Ein Wunder ohnegleichen«, antwortete der Führer, »nämlich die große Wüstensphinx!«
»Wüste!« kam es aus Madame Ratonne voller Geringschätzung.
»Wir sind nicht hergekommen, um eine Wüste zu betrachten«, fügte Herr Rata hinzu.
»Oh!« entgegnete der Führer. »Aber eine Wüste, die heute keine mehr sein wird, denn es ist Sphinxfest, und aus allen Ecken der Welt strömt man herbei, um diese zu verehren!«
Mehr bedurfte es nicht, um unsere hochmütigen Flugtiere dazu zu bewegen, ihr einen Besuch abzustatten. Ratine und ihrem Verlobten war es überhaupt einerlei, an welchen Ort man sie führte, solange man sie nur zusammenließ! Und Vetter Raté und die arme Gans Ratane konnten sich nichts Besseres als eine Wüste wünschen, in die sie sich zurückziehen konnten.
»Vorwärts!« befahl Madame Ratonne.
»Vorwärts!« wiederholte der Führer.
Einen Augenblick später hatten alle die Karawanserei verlassen, ohne zu merken, daß dieser Führer der Zauberer Gardafur war, der in seiner Verkleidung nicht zu erkennen war und sie in eine neue Falle lockte.
X
Welch prächtige Sphinx, unendlich viel schöner als all die Sphinxen Ägyptens, auch wenn die sich so großer Beliebtheit erfreuen. Diese hier hieß Sphinx von Romiradur und war das achte Weltwunder.
Die Familie Raton kam gerade am Rande einer weiten Ebene an, die von dichtem Wald umschlossen und im Hintergrund von einer vom ewigen Schnee bedeckten Gebirgskette überragt wurde.
Stellt euch in der Mitte dieser Ebene ein aus Marmor gehauenes Ungetüm vor. Es ruht auf dem Gras, das Gesicht geradeaus gewandt, die Vordertatzen übereinandergekreuzt, der Körper langgezogen wie ein Hügel. Es ist mindestens fünfhundert Fuß lang und hundert breit, und sein Haupt erhebt sich achtzig Fuß über den Boden.
Auch diese Sphinx hat diesen unergründlichen Blick, der ihre Artgenossen kennzeichnet. Noch nie hat sie das Geheimnis preisgegeben, das sie seit Tausenden von Jahrhunderten hütet. Und doch steht ihr weites Gehirn jedem offen, der es besuchen will. Durch eine zwischen den Vordertatzen angebrachte Tür gelangt man hinein. Treppen im Innern verschaffen Zugang zu ihren Augen, ihren Ohren, ihrer Nase, ihrem Mund, bis zum Wald der Haare, der sich auf ihrem Haupt sträubt.
Damit ihr euch noch besser die Riesenhaftigkeit dieses Ungetüms vorstellen könnt, müßt ihr wissen, daß zehn Personen gemütlich in seinen Augenhöhlen Platz finden würden, dreißig in den Ohrmuscheln, vierzig im Nasengeknorpel, sechzig in seinem Mund, in dem man einen Ball geben könnte, und fast hundert in seinem Haar, das dicht ist wie ein Wald in Amerika.
So kommt man auch von überall her – nicht um ihm Fragen zu stellen, weil es ja doch nichts antworten
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