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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Genf; komm mit uns!
    – Verlassen Sie Ihre Kinder nicht! rief Aubert.
    – Warum soll ich nach der Stätte zurückkehren, in der mein Leben nicht mehr pulsirt, in der ein Theil meiner selbst schon begraben liegt?
    – Ihre Seele ist nicht erstorben! sagte der Eremit mit ernster Stimme.
    – Meine Seele!… O nein!… Ihr Räderwerk ist gut in Ordnung; ich fühle, wie sie in gleichem Zeitmaß schlägt…
    – Ihre Seele ist immateriell; Ihre Seele ist unsterblich! entgegnete überzeugungsvoll der Eremit.
    – Ja… unsterblich wie mein Ruhm!… Aber noch ist sie im Schlosse Andernatt eingeschlossen, und ich will sie wiederholen.«
    Der Eremit bekreuzte sich; Scholastica war halb todt vor Schrecken Aubert hielt Gérande in seinen Armen.
    »Schloß Andernatt wird von einem Verdammten bewohnt, versetzte der Eremit, von einem Verdammten, der das Kreuz meiner Eremitage nicht grüßt!
    – O Vater, geh nicht dorthin! flehte Gérande.
    – Ich will meine Seele! meine Seele gehört mir…
    – Halten Sie ihn auf! O bitte, halten Sie meinen Vater zurück!« rief Gérande.
    Aber schon war der alte Uhrmacher aufgesprungen, zur Thüre hinausgestürzt und in dem Sturm und dem Dunkel der Nacht verschwunden.
    »Mir! mir, meine Seele!…« hallte es noch gellend zurück.
    Gérande, Aubert und Scholastica stürzten hinter Meister Zacharius her, unwegsame Pfade entlang, auf denen der Greis, von übermenschlicher Kraft und der Ueberaufregung des Fiebers getrieben, wie ein Orkan dahinjagte. Der Schnee fiel in dichten Wirbeln und mischte seine weißen Flocken mit dem Schaum der Waldbäche, die in dem Tosen des wilden Wetters über ihre Ufer getreten waren.
    Als Gérande, Aubert und Scholastica an der der thebanischen Legion errichteten Capelle vorüberkamen, bekreuzten sie sich, Meister Zacharius aber entblößte nicht sein Haupt.
    Endlich, mitten in unwirthbarer Gegend, tauchte das Dorf Evionnaz auf; das härteste Herz mußte weich werden beim Anblick dieses in schauerlichster Einöde verlorenen Fleckens. – Der Greis setzte seinen Weg unaufhaltsam fort; er war nach links abgebogen und hatte sich in die Schlünde der
Dents du midi
vertieft, deren spitzige Pics bis zum Himmel emporzuragen schienen.
    Bald erhob sich vor den Wanderern eine alte, düstere Ruine, die wie ein Felsen aus dem Boden hervorzuwachsen schien.
    »Da ist es! Da!…« rief der Alte und beschleunigte von Neuem seinen zügellosen Lauf.
    Schloß Andernatt war schon zu jener Zeit nur noch eine Ruine, die von einem dicken, zerstückelten Thurm überragt wurde. Fast schien es, als drohte das morsche Gemäuer einzustürzen und die alten Giebel an seinem Fuße zu zerschellen. Die ungeheuern Steinhaufen waren schauerlich anzusehen; zwischen Schutt und sonstigen baulichen Ueberresten gewahrte man öde Säle mit zertrümmerten Decken, und im Geröll unheimliche Winkel, die zum Schlupfwinkel für Schlangen und Nattern geschaffen schienen.
    Ein enges, niederes Ausfallthor, das sich auf den mit Schutt gefüllten Graben öffnete, gewährte Zutritt zum Schlosse Andernatt. Was für Bewohner waren darüber hinweg gegangen? Wer konnte es sagen?
     

    »Da ist es! Da!…« rief der Alte. (S. 127.)
     
    Ohne Zweifel hielt sich ehemals ein Markgraf, halb Räuber, halb Ritter, in dieser verfallenen Burg auf, und ihm folgten Banditen und Falschmünzer, die dann an der Stätte ihres Verbrechens gehangen wurden. Man raunte sich zu, daß Satan in wilden Winternächten hier erschien, um am Abhang des tiefen Abgrundes, in dessen Schatten die Ruinenstücke verschwanden, seine Tänze aufzuführen.
    Meister Zacharius wurde durch den unheilkündenden Anblick dieser Gegend nicht in Schrecken gesetzt; er gelangte bis zu dem Ausfallthor, und da niemand ihm den Eintritt wehrte, auf einen großen finstern Hof. Auch hier wurde er nicht verhindert, weiter zu schreiten, und erstieg eine Art geneigter Ebene, die zu einem langen Corridor führte; die Bogen waren schwer und düster, wie wenn sie den hellen Tag erdrücken wollten.
    Niemand stellte sich auch hier dem Greise entgegen, aber Gérande, Aubert und Scholastica folgten ihm fortwährend und ließen ihn nicht aus den Augen.
    Meister Zacharius ging seinen Weg so sicher, als würde er von einer unsichtbaren Hand geführt. Er kam an eine alte, wurmstichige Thüre, die unter seinen Stößen wich, scheue Fledermäuse schwirrten empor und beschrieben schräge Kreise um sein Haupt.
    Ein ungeheurer Saal, der besser erhalten war, als die anderen Räume, that sich

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