Erzählungen
Leben, aber vielleicht für jenes! flüsterte Gérande.
– Wir sind in Gottes Schutz, Gérande! Machen wir uns auf die Reise! Das Schloß Andernatt liegt in den Schlünden der
Dents du midi
, etwa zwanzig Stunden von Genf.«
Noch an demselben Abend reisten Aubert und Gérande zu Fuß, und nur von ihrer alten Magd begleitet, ab. Sie verfolgten die Straße, die sich längs des Genfer-Sees hinzieht, und legten noch in derselben Nacht fünf Stunden zurück, ohne sich in Bessinge oder Ermance, wo sich das berühmte Schloß »der Mayor« erhebt, aufzuhalten. Nicht ohne Mühe und Gefahr durchwateten sie den Dransestrom; wo sie an Ortschaften vorüberkamen, erkundigten sie sich, ob Meister Zacharius hier vorübergezogen sei, und bald erhielten sie die Gewißheit, daß ihre Ahnung keine trügerische gewesen war; der alte Uhrmacher hatte wirklich diesen Weg verfolgt.
Als der folgende Tag sich seinem Ende nahte, waren sie bereits an Thonon vorübergekommen und hatten Evian erreicht, von wo man die Bergücken der Schweiz in einer Entfernung von zwölf Wegstunden liegen sieht. Aber die beiden Verlobten hatten heute kein Auge für diese entzückenden Fernsichten; sie schritten mit fast unnatürlicher Kraft vorwärts. Aubert, der sich auf einen Knotenstock stützte, bot bald Gérande, bald der alten Scholastica seinen Arm und hielt sich selber nur durch den Gedanken aufrecht, daß er seine Begleiterinnen stützen müsse. Während die drei auf der herrlichen Straße, die sich auf schmalem Plateau am Ufer des Sees hinzieht, weiter gingen, sprachen sie von ihren Hoffnungen, ihrem Kummer und ihren Befürchtungen.
Als sie Bouveret erreichten, wo die Rhone in den Genfer-See tritt, schlugen sie eine andere Richtung ein und wandten sich von dem See ab. In den bergigen Gegenden von Vionnaz, Chesset, Collombay, halb versteckten Dörfern, nahm ihre Ermüdung zu; die Kniee ermatteten, und ihre Füße wurden wund auf dem steinigen Pfade, der mit spitzem, scharfem Granit bedeckt war. – Noch immer keine Spur von Meister Zacharius!
Trotz ihrer namenlosen Ermüdung schritten die Verlobten rüstig vorwärts und suchten weder in den einsam liegenden Hütten Ruhe, noch kehrten sie im Schlosse »Monthey« ein, das mit seiner Umgebung Margaretha von Savoyen als Apanage verliehen ist. Endlich, gegen Ende des Tages, erreichten sie, fast ohnmächtig vor Ermüdung, die Eremitage von
Notre-Dame du Sex
, die unter den
Dents du midi
, sechshundert Fuß über der Rhone liegt.
Da die Nacht bereits anbrach, nahm der Eremit sie in seine Klause auf; die Armen konnten keinen Schritt mehr thun und mußten endlich Ruhe suchen.
Auch der Einsiedler wußte ihnen von Meister Zacharius keine Nachricht zu geben, und Gérande fragte sich verzweiflungsvoll, ob sie wohl hoffen dürfe, ihn, den Kranken, in diesen finsteren Einöden noch lebend wiederzufinden. Es war tiefe Nacht; der Orkan pfiff in den Bergen, und mit furchtbarem Donner stürzten Lawinen von den Gipfeln der zerklüfteten Felsen.
Aubert und Gérande hatten sich vor dem Herde des Eremiten niedergekauert und berichteten ihm von ihrem Kummer. In einem Winkel waren die von Schnee durchnäßten Mäntel zum Trocknen aufgehängt, und vor der Hütte ließ der Hund ein jämmerliches Geheul ertönen, das sich mit dem Tosen des Sturms mischte.
»Der Stolz hat einen guten Engel zu Fall gebracht, sagte der Eremit; es ist dies der Stein des Anstoßes, an dem die Geschicke der Menschen so oft scheitern. Dem Hochmuth, diesem Urquell aller Laster, kann man keine Vernunftgründe entgegenhalten, da er sich, seinem Wesen nach, der Einsicht Anderer verschließt!«
Alle Vier knieten nieder; da ließ sich das Gebell des Hundes mit verdoppelter Stärke hören, und es wurde heftig an die Thür gepocht.
»Macht auf, im Namen des Teufels!«
Die Thüre gab unter den gewaltsamen Stößen nach, und ein Mann mit vom Winde zerzaustem Haar, wirrem Auge und zerrissener Kleidung stürzte herein.
»Mein Vater!« schrie entsetzt Gérande.
Es war wirklich Meister Zacharius.
»Wo bin ich? rief er; in der Ewigkeit!… die Zeit ist zu Ende… die Stunden schlagen nicht mehr… die Zeiger sind stehen geblieben!
– Vater! lieber Vater! flehte Gérande in so herzzerreißendem Ton, daß er den Greis in die wirkliche Welt zurückzurufen schien.
– Du hier, meine Gérande? rief er, und Du, Aubert!… Ach, liebe Kinder, werdet Ihr in unserer alten Kirche getraut werden?
– Vater, bat Gérande, komm mit uns zurück nach Deinem Hause in
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