Erzählungen
vor seinen Blicken auf. Hohe, mit Malerei verzierte Füllungen bekleideten die Wände, auf denen sich Larven, Eulen 1 und Tarasken 2 durcheinander zu bewegen schienen. Einige Fenster, lang und schmal, wie Schießscharten geformt, bebten unter den Stößen des Orkans.
»Hier, meine Tochter, ist Dein Herr und Gebieter«. (S. 132.)
Als Meister Zacharius in der Mitte des Saales angekommen war, schrie er laut und freudig auf; sich gegenüber an der Mauer erblickte er die Uhr, an der jetzt sein ganzes Sein und Denken hing. Es war ein Meisterwerk ohne Gleichen und stellte eine alte romanische Kirche mit Strebepfeilern aus Schmiedeeisen und einem schweren Kirchthurm dar, in dem sich ein vollständiges Glockenspiel für die Antiphone des Tages, das Angelus, die Messe, die Vesper, Completorium und Salve befand. Ueber der Kirchenthüre, die sich zur Stunde der Gottesdienste öffnete, war eine Rosette ausgehöhlt, in deren Schwibbogenverzierung die zwölf Stunden des Zifferblatts in Relief ausgehauen waren, und in deren Mitte sich die beiden Zeiger bewegten. Zwischen Kirchthüre und Rosette erschien in kupfernem Rahmen, wie wir es schon von der alten Scholastica hörten, zu jeder Zeit des Tages ein bezüglicher Spruch. Meister Zacharius hatte einst die Aufeinanderfolge dieser Sinnsprüche mit christlichem Geist und hoher Sorgfalt gewählt und geregelt; die Stunden des Gebets, der Arbeit, des Mahls, der Erholung und der Ruhe folgten einander nach Ordnung der Kirchenzucht und mußten einen gewissenhaften Beobachter ihrer Anempfehlungen unfehlbar zur Seligkeit führen.
Meister Zacharius wollte sich freudetrunken der Uhr bemächtigen, als er ein lautes, höhnisches Lachen hinter sich vernahm.
Er wandte sich um und erblickte beim Schein einer rauchenden Lampe das wunderliche kleine Ungethüm.
»Sie hier?« rief er aus.
Gérande schmiegte sich angstvoll an ihren Verlobten.
»Guten Tag, Meister Zacharius, begann das greisenhafte Wesen.
– Wer sind Sie?
– Ich bin Pittonaccio, Ihnen zu dienen! Sie sind wahrscheinlich hierher gekommen, um mir Ihre Tochter zur Frau zu geben. Sie erinnern sich doch noch meiner Worte! Gérande wird Aubert nicht heiraten.«
Der junge Gehilfe stürzte auf Pittonaccio zu, aber dieser glitt ihm unter den Händen fort wie ein Schatten.
»Halt ein, Aubert! rief Meister Zacharius.
– Gute Nacht! sagte Pittonaccio – er war verschwunden.
– Laß uns von dieser verdammten Stätte fliehen, mein Vater,« rief Gérande verzweiflungsvoll.
Aber Meister Zacharius war nicht mehr zu sehen; er eilte bereits hinter dem Phantom Pittonaccio’s her über zerbröckelnde Treppen und durch halb verfallene Stockwerke. Scholastica, Aubert und Gérande blieben vernichtet in dem weiten Saal zurück; das junge Mädchen war auf einen Steinblock gesunken und die alte Magd kniete neben ihr auf dem Boden und betete. Aubert stand neben seiner Braut und wachte über sie. Ein tiefes Schweigen herrschte in dem öden Raum und wurde nur durch die kleinen Thiere unterbrochen, die leise pochend in dem alten Holze arbeiteten, und die der Volksmund »die Todtenuhr« nennt.
Als die ersten Strahlen des anbrechenden Tages ihren blassen Schimmer in das Gemach sandten, wagten sich die Drei aus dem Zimmer und irrten auf den endlosen Treppen und Corridors umher; aber trotzdem sie zwei Stunden lang das Gemäuer durchsuchten, begegneten sie keiner lebenden Seele, und nur das Echo antwortete auf ihr Rufen. Bald befanden sie sich hundert Fuß unter der Erde, bald schauten sie aus der Höhe auf Felsen, Wälder und Klüfte herab.
Endlich führte sie der Zufall in den ungeheuren Saal zurück, in dem sie eine so angstvolle Nacht verlebt hatten. Sie fanden ihn nicht mehr leer, denn Meister Zacharins und Pittonaccio hatten sich unterdessen eingefunden und waren augenscheinlich in einer angelegentlichen linterhaltung begriffen; Ersterer hielt sich starr und steif wie ein Leichnam, Letzterer lehute an einem Marmortisch und hatte sein greifes Haupt in die Hand gestützt.
Als der alte Uhrmacher seine Tochter eintreten sah, ging er auf sie zu, erfaßte ihre Hand und führte sie zu Pittonaccio:
»Hier, meine Tochter, ist Dein Herr und Gebieter, Dein künftiger Gemahl!« sprach er.
Gérande schauerte zusammen.
»Niemals wird sie ihm gehören, rief Aubert zornig, denn sie ist meine verlobte Braut.
– Niemals, niemals!« rief Gérande, wie ein klagendes Echo, ihm nach.
Pittonaccio brach in ein höhnisches Lachen aus.
»So wollt Ihr
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