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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Kantine ein. Ich bleibe zurück. Dunoyer: nichts Verdächtiges ...
    Veyre, in der gleichen Kompagnie, hat sein Zimmer nebenan. Das Zimmer ist leer, der Spind offen. Der arme Veyre! Er kann mit seinen Uniformstücken keinen Staat machen. Ein verrumpfelter Khakirock, sonst nichts ...
    Aber vielleicht trägt er den andern auf sich? Nein, da kommt er gerade über den Hof. Er ist lang, lang und dürr. Er kommt nicht in Frage. Denn der Rock, den Dolf trug, der sass! Hätte Veyre mit Dolf den Rock getauscht, das Kleidungsstück würde meinem Freund (gut, sei's drum! meinem Freund!) fast bis an die Kniekehlen reichen.
    Nichts bei Hassa, nichts bei Schützendorf. Übrigens erinnerte ich mich jetzt, dass Schützendorf sehr korpulent ist, er ist Bayer und pflegt seinen Bierbauch. Er kann dies ungescheut tun, denn er hat einen Druckposten in der Küche. Und Hassa? Hassa ist fast ein Zwerg, ein Zwerg, der aus dem Riesengebirge stammt. Kein Rübezahl ... ein Zwerg, ein Gnom, mit schmalen Schultern. Dolf würde den Rock sprengen, zöge er ihn an ...
    Warum kommen die Überlegungen postnumerando – nachträglich?
    Bliebe also nur – es fröstelte mich –, bliebe nur der Korse. Aber des Korsen Zimmer liegt im Gefängnis. Ich habe keinen Zutritt dazu. Ich stehe vor einer Mauer ...
    Halt! Und Baskakoff? Wer sagt eigentlich, dass es ein Sergeant sein muss, der viele Dienstjahre hat. Ein Rengagierter, wie wir sie nennen?
    Merkwürdig ist doch immerhin, dass Baskakoff, der jahrelang Advokat gewesen ist, sich keinen Deut um die ganze Kriminalaffäre gekümmert hat. Er, der doch die Klage fürs Kriegsgericht aufzusetzen hat.
    Wovon hat er zuerst mit mir gesprochen? Von Dostojewskys »Schuld und Sühne«. Von Raskolnikoff. Raskolnikoff, dem Studenten, der eine Wucherin und ihre blödsinnige Schwester ermordet. Warum hat er nach fünfzig Metern vondiesem, immerhin abgelegenen Thema angefangen? Hier in der Legion, wo man sich, weiss Gott, nicht mit literarischer Kritik beschäftigt? Und dann noch zu mir, den er gar nicht kannte? Das schlechte Gewissen nimmt sonderbare Verkleidungen an. Es treibt nur allzu oft Mummenschanz, das schlechte Gewissen. Weiss ich das nicht? Gewiss! Ich weiss es nur zu gut ...
    Die Kantine. Sie liegt merkwürdigerweise gerade neben dem »Prisong«, wie Baskakoff sagt, neben dem Gefängnis. Ein dicker Spaniol schenkt dort Wein aus. Gläser gibt es nicht, man trinkt aus den Flaschen. Auch Sardinenbüchsen sind erhältlich, Brot, Wurst, Schokolade, Zigaretten.
    Blau ist die Luft im Raume. Die Tische, die nie recht gefegt werden, haben einen schwarzen Schmutzüberzug, der in allen Regenbogenfarben schillert, wie Teer. In einer Ecke sind sechs versammelt. Zehn Flaschen vor ihnen. Sie singen: »Ja, das war die böse Schwiegermamama, Schwiegermamama, Schwiegermamama ...«
    Dort sitzt er, vor dem Schanktisch. Aber nicht Dunoyer sitzt bei ihm, sondern wahrhaftig der Korse.
    Der Korse ohne Leibgarde. Ganz allein. Vielleicht fühlt er sich in Begleitung eines Kollegen sicher?
    Baskakoff? ... Cattaneo? ...
    Ganz unmerklich, nur mit den Augen, winkt mir Baskakoff, näherzutreten. Vor dem Korsen steht eine Flasche jenes giftgrünen Gesöffs, das aufgekommen ist, als der Absinth verboten wurde. Zur Hälfte leer. Cattaneos Backen glühen, und dies ist keine Metapher – sie glühen wirklich, oder, um ganz genau zu sein, sie erinnern an glühende Holzkohlen.
    Baskakoff ist nüchtern und bleich, seine Nase hängt traurig über seine Lippen. Und jetzt erst bemerke ich, dass der Rechtsanwalt aus Odessa, der für einen Tischler, der sich verflüchtigt hatte, eingesprungen ist, einen simplen Uniformrock trägt, der von keinem Schneider einen Offiziersschnitt erhalten hat. Lose sind die goldenen Borten, der spitze Winkel auf dem Unterarm, lose sind sie angenäht.
    Die beiden diskutieren. Auch das stimmt nicht ganz. DerKorse erzählt etwas, mit leicht gelähmter Zunge (der Pernod, wie man den Absinthersatz getauft hat, ist ein verräterisches Gesöff), und hin und wieder wirft der ehemalige Fürsprech ein Wort ein. Sie sprechen Französisch. Cattaneo erklärt etwas und fährt mit dem Zeigefinger in einer Lache herum, die von verschüttetem Wein herrührt. Ich schleiche näher, der korsische Sergeant bemerkt mich nicht, auch dann nicht, als ich endlich das Hockerli neben seinem Stuhl eingenommen habe. Es scheint, als sei er blind.
    Er hebt die Flasche, nimmt einen langen Zug. Und beginnt wieder zu sprechen. Seine Rede ist klar. Er hat sich

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