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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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der Ausdruck auf den Gesichtern, die rund über dem Tisch schwebten, an dem plötzlichen Stillschweigen schuld. Denn deutlich verständlich war dieser Ausdruck – und selbst ein Seufzer der Langeweile wäre unnötig gewesen. Die ein wenig verzerrten Mienen der Zuhörer sagten etwa: Wie oft haben wir diese Klage schon hören müssen, wie oft haben schon ältere Herren über die Zeit geklagt, die nach dem Kriege angebrochen ist. Was nützt es aber, über sie zu klagen? Ist sie etwa neu? Nein! Dreimal nein! Schon als Napoleon III., den ein Dichter, der sich für gross hielt, Napoleon den Kleinen nannte, ans Ruder kam, ging es wie in unserer heutigen Zeit. – Der dicke Herr räusperte sich und begann von neuem: »Wenn Sie wüssten, welches Elend uns der Krieg hinterlassen hat! Der Geist ist tot, und einzig der Materialismus triumphiert...« Dann bestellte er sich einen Schnaps, während das Orchester einen Tango spielte.
    Doch als die Musik schwieg, sass neben dem dicken Herrn, der so gerne klagte, ein anderer Mann. Sein einfach geschnittener Anzug war blau. Sein Gesicht schien noch jung, deshalb wunderten wir uns über das schneeige Weiss seiner zurückgestrichenen Haare. Sie liessen die Schläfen frei, die sich einbuchteten, und auch den Nacken, der braun war. Die mageren Hände lagen gefaltet auf dem Tisch. Der Kellner kam. »Kann ich ein Glas kalte Milch haben?« fragteder Weisshaarige. Der Kellner war erstaunt. Doch brachte er das Bestellte und verlangte dafür zwei Franken. Der Mann zahlte und faltete dann seine braunen Hände vor dem Getränk. Da sein Gesicht bartlos war, sah man, wie die Lippen sich spitzten ... Ein leiser Pfiff – und dann blies der Neue über die Oberfläche der kalten Milch. »Können Sie sich nicht vorstellen?« fragte der Dicke und zerrte an seinem Stehkragen. Die anderen schwiegen. Da schüttelte der Neue den Kopf und sagte leise: »Ich bin tot. Ich weiss nicht, warum ich noch herumlaufe. Ich bin am zehnten Dezember neunzehnhundertsiebzehn gestorben ...«
    »Solche Dummheiten«, meinte der dicke Herr und zog an seiner grünen Krawatte. »Sie sind doch nicht tot, wenn Sie kalte Milch trinken! Wenn Sie in das Tanzlokal eines Hotels gehen! Reden Sie keinen Unsinn!« Uns andere am Tisch fröstelte es, obwohl uns eine trockene Hitze umgab, denn unter jedem Fenster stand ein Heizkörper. Auf einer Tribüne begann die Musik wieder zu spielen. Alle Tische des Speisesaales in jenem grossen Hotel droben in den Bergen waren besetzt. In der Mitte des Raumes war ein leerer Platz, auf dem einige Paare langsame Tanzschritte versuchten.
    »Sie wissen nicht, was es heisst, tot zu sein? Es ist merkwürdig. Vielleicht haben Sie meiner Sprache angemerkt, dass ich Franzose bin, obwohl ich das Deutsche ziemlich fehlerfrei spreche; ich stamme aus dem Elsass. Neunzehnhundertsechzehn liess ich mich als Freiwilliger in der französischen Armee anwerben, und da ich einundzwanzig Jahre alt war und schon drei Universitätsjahre hinter mir hatte, schickte man mich in eine Offiziersschule. Ich nahm Kurse, lernte Kanonen bedienen, besonders die grosskalibrigen, die in Festungen gebraucht werden, und übte am Maschinengewehr; viel Theorie schluckte ich ... Dann wurde ich in ein Rekrutenlager geschickt, als Unterleutnant, und musste junge Burschen ausbilden. Ende neunzehnhundertsiebzehn war ich soweit, dass ich kommandieren durfte. Als Oberleutnant. Ich wurde in eine Festung geschickt – der Oberst, der unsere Schule befehligte, sagte noch zu mir: ›Passen Sieauf! Dort oben werden Sie nichts zu lachen haben!‹ Ich lachte trotzdem... Dreiundzwanzigjährige haben selten gegen die Angst zu kämpfen.«
    Der Mann im blauen, ein wenig abgeschabten Anzug spitzte die Lippen, pfiff leise über seine Milch, und seine Hände blieben gefaltet auf dem Tische liegen. Er wandte den Kopf, grosse Flocken strichen draussen lautlos über die Fensterscheiben. »Es war wie heute abend«, sagte er. »Als wir oben ankamen, beschien eine Bogenlampe den Hof; sie war scharf abgeblendet. Es wunderte mich, dass man alle Insassen der Festung im Hofe versammelt hatte. Die Soldaten trugen Mäntel, deren blaue Farbe an einen bleichen Himmel erinnerte. In weiter Ferne dröhnten Kanonen. Ein Offizier kam mir entgegen; auf seiner Kappe glänzten vier goldene Streifen, in der Rechten trug er den gezückten Degen, und seine Breeches waren rot; an den Absätzen seiner Reitstiefel klirrten Sporen. Ich fragte mich, warum der Kommandant – so nennt man bei

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