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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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nüchtern getrunken, aber mir scheint, ich weiss es nicht warum, dass es eine gefährliche Nüchternheit ist.
    »Kuik«, sagt er. Er hat aus der Weinlache einen Mann gemacht – das heisst, die primitive Zeichnung eines menschlichen Wesens: der Kopf: ein Kreis; der Rumpf: ein grösserer Kreis; zwei waagrechte Striche: die Arme; zwei senkrechte Striche: die Beine. »Kuik«, wiederholt er und trennt mit dem Zeigefinger den Kopf vom Rumpf – will es vielmehr tun, aber der Wein ist klebrig. Es gibt nur einen Strich, der dem Arm zur Linken des Korsen parallel läuft. »Kopfabhauen, das wird das beste sein. Sind alles Mörder, Spione, Verräter, Diebe. Die Neuen, die kommen. Spione, von Deutschland gesandt. Man muss sie vertilgen. Fort mit dem Hals, fort mit dem Kopf. Aber ich darf nicht, nur quälen! Das ist erlaubt! Sandsack schleppen! Auf! Nieder! Laufschritt! Hahahahah ...«
    Und dabei passt der Ausdruck gar nicht zum Gesprochenen. Die Augen sind braun, sanft, mild. Sie schauen in weite Fernen.
    »Bei uns daheim – Blutrache!« sagt er leise, und seine Hände (schöne, glatte Hände) trommeln auf dem Tisch. »Blutrache! Heilig! – Aber hier? Das gleiche. Ein ganzes Volk übt Blutrache am andern.«
    Ganz leise, kaum hörbar, sagt Baskakoff:
    »Und das Geld?« Er macht den gleichen Fehler wie vorhin,spricht die Endsilbe von »argent« zu hart aus, mit einem »g« am Ende.
    »Ich brauche kein Geld«, sagt Cattaneo ruhig und lässt seine Finger kleine Tänze aufführen. »Ich habe zehn Jahre Dienst. Zweihundertfünfzig Franken im Monat, und ich gehe nicht in die Mess. Nein, nein. Ich esse Mannschaftskost. Meine Vögel müssen fasten, dann singen sie schöner. An einem Tag dieser, am andern jener... Ich bekomme immer genug. Und spare. Aber du brauchst Geld!« schreit er plötzlich Baskakoff ins Gesicht. »Sechs Monate hast du erst und issest in der Mess. Hundert Franken Mess, bleiben dir lumpige zehn Franken. Glaubst du, ich habe dich nicht durchschaut? Hast Geld gebraucht, hast dem... dem Ackermann deinen Kittel angezogen, hast dem Fleiner das Geld genommen. Aber...« Flüsternd: »Das bleibt unter uns. Ein Kamerad verrät den andern nicht. Denk an die plombierten Wagen, Kamerad – Revolution in plombierten Wagen, wunderbarer Import. Wer hat importiert? Die Deutschen! Die Deutschen sollen die Suppe auslöffeln – und auch der... der... Ackermann!«
    Schweigen. Am Tisch der sechs singen sie jetzt:
    »Ich weiss nicht, was soll es bedeuten...«
    »Ruhe dort!« schrie der Korse. Baskakoff war ein wenig blass geworden. Seine Lippen hatten ihre Bläue verloren, und seine Nasenspitze war weiss. Auf den Nasenflügeln standen winzige Schweisstropfen. Der Korse hatte den Kopf gesenkt. Da blickte mich Baskakoff voll an, und seine Lippen, seine bleichen Lippen formten ein Wort, ein deutsches Wort. Dreimal musste er seine Lippen verziehen, deutlich die Zähne des Oberkiefers zeigen, den Mund weit öffnen, ihn schliessen, bis ich verstand: »Wache!«
    Ich sollte die Wache rufen! Nein, ich wollte nicht. Sachte rutschte ich von meinem Stuhl herab, zahlte beim Kantinenwirt eine Flasche, schlich zum Tisch der sechs Sänger, zog einen am Ärmel (er war von meiner Kompagnie), zeigte ihm die Flasche und flüsterte ihm ins Ohr: »Für dich,wenn du zwei Mann von der Wache holst. Sag, es sei Befehl vom Obersten.«
    Der Sänger glaubte mir. Er nahm die Flasche, liess sie in seiner Capotte verschwinden. Dann stand er auf und ging. Ich wollte die Wache dirigieren, wenn sie kam. Baskakoff oder der Korse? Fünf Minuten, dann war es entschieden.
    »Sergeant«, sagte Baskakoff (und wenn er hundertmal geduzt wurde, immer siezte er seinen Partner), »Sergeant«, wiederholte Baskakoff, und sein Zeigefinger tippte auf das Männchen, das aus einer Weinlache entstanden war. »Sie haben gesagt: Kuik! und dazu die Gebärde gemacht des Halsabschneidens ...« Wie mühselig war Baskakoffs Französisch; ohne Zweifel, das Schreiben in dieser Sprache ging ihm besser von der Hand. »Kennen Sie den Bach beim Araberviertel?«
    »Den Bach? Gewiss kenn' ich den Bach.« Lachen. Schluck aus der Pernodflasche. »Was weiter?«
    Baskakoff schwieg. Er sass mit dem Rücken zum Schanktisch und behielt die Türe im Auge. Der Korse sah nur die vielfarbigen Flaschen, die der spanische Kantinenwirt sehr malerisch auf seinen Gestellen gruppiert hatte: den braunen Wermut, den purpurnen Byrrh, die giftgrüne Minze, den wasserhellen Dattelschnaps und die Pernodflasche mit dem

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