Erzählungen
Antwort. Ich liess mich von meiner Ordonnanz in mein Zimmer führen. Der Koffer war da, ich zog mich um. Dann trat ich vor den Spiegel, um mich zu kämmen. Da sah ich, dass meine Haare weiss geworden waren. Was wollen Sie, auch das Pigment scheint empfindlich zu sein, Angst verscheucht die Färbung. Und es flieht aus dem Körper, wenn der Schmerz unerträglich wird. Sechs Frauen!... Wieviel Kinder?...«
Der Mann, dessen blauer Anzug ein wenig abgeschabt war, trennte seine gefalteten Hände. Die Rechte ergriff das Milchglas, er trank es leer. »Ober«, rief der Mann. Und als der Kellner kam: »Jetzt können Sie mir einen Whisky bringen.«
Der dicke Herr aber sagte: »Unerhört! Solches zu erzählen! Da spricht man noch von Ritterlichkeit!« Er zog sein Schnupftuch und wischte sich den Hals.
Der Weisshaarige trank. Seine Lider blieben gesenkt, während er leise sprach: »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich damals gestorben bin, damals, an jenem Dezembertag, da es schneite und in der Ferne Kanonen unzufrieden blafften. Mehr konnte ich nicht tun. Aber was wollen Sie: Auch der Tod kennt keinen Gehorsam. Er kommt nicht auf Anruf. Ich habe ihn gesucht und nicht gefunden, ihm gerufen ... Am nächsten Tage gab es inmitten des Hofes der Festung ein Viereck, dessen gelber Lehm von seiner Umgebung abstach. Aber der Boden war festgestampft. Kein Kreuz ... Nichts ...«
Er stand auf, während das Orchester einen Rumba spielte. »Khäkhäkhä ...« hustete der Dicke. »Unglaublich.« Der Weisshaarige stand am Fenster und blickte in die Nacht. Dichter strichen die dicken Flocken über die Scheiben. Er ging an unserem Tisch vorbei. »Morgen wird der Schnee sicher vierzig Zentimeter hoch sein. Ich will eine Skitour machen. Gute Nacht!« Schweigen antwortete ihm. Am nächsten Abend brachte ihn eine Rettungskolonne ins Hotel zurück. Er starb in der Nacht. Das Zimmermädchen, das bei ihm Wache gehalten hatte, erzählte am nächsten Morgen: »Er hat viel geredet, immer Französisch. Aber gegen Mitternacht ist er klar geworden, und da hat er gesagt zu mir, auf deutsch: ›Bist du verheiratet?‹ ›Nur verlobt!‹ Da hat der Herr gelächelt und sich aufgerichtet: ›Pass auf die Kinder auf! Auf deine Kinder! Sechs Väter hab' ich gesehen, und ich sehe sie immer, obwohl ich sie nicht erkennen kann. Sie liegen vor einer Mauer. Sag deinem Mann, er soll sich vor Mauern hüten!‹ Sicher«, endete das Stubenmädchen, »sicher hat er im Delirium gesprochen.« Doch ich glaube, dass der sonderbare Mann nicht im Delirium gesprochen hat, im Gegenteil, er war wach. Im Knopfloch seines abgeschabten blauen Kittels war ein rosa Band befestigt, das ich zuerst für einen Orden hielt. Doch war es ein Seidenbändchen,wie man es braucht, um Kindern die Haare zusammenzuhalten. Und ich glaube, er hat die Frauen seiner Toten, er hat die Kinder seiner Toten nach dem Kriege besucht.
Im Fremdenbuch war hinter seinem Namen als Beruf »Arzt« eingetragen. Vielleicht hat der Vierundzwanzigjährige gehofft, wenn er Tote seziere, komme er dem Tode näher. Doch der Unsichtbare hat im Schnee auf ihn gewartet und ihm, mitleidvoll, wie er bisweilen ist, den Weg gezeigt, der in sein Reich führt. Der junge Weisshaarige musste nur über eine Felsenfluh springen. Während des Falles vergass er die Bogenlampe und den ordengeschmückten Offizier. Einzig an die Körper am Fusse der Mauer musste er sich noch erinnern. Diesem quälenden Bilde jedoch hat der Sprung das Entsetzen geraubt.
Die Begegnung
Es war eine kleine Station, an welcher der junge Mann den Zug bestieg. Mit gesenktem Blick schritt er durch den Gang des Wagens, und auch als er sich mir gegenüber ans Fenster setzte, sah er nicht auf. Die Haut seiner Lider war körnig und gelb, sie zitterten, und seine Hände bebten; wohl darum ballte er sie und steckte die Fäuste in die Hosentaschen. Nach einiger Zeit kam die Rechte wieder zum Vorschein und hielt eine Zigarette, welche die Hand wohl aus einem verborgenen Paket gefischt hatte. Die Linke half beim Anzünden. Nach einigen tiefen Zügen streifte der junge Mann die Glut am Aschenbecher ab und verwahrte den Stummel in der Westentasche. Auffallend war während dieser Zeit sein angstvoller Blick, der alle Bänke, alle Ecken absuchte – endlich betrachtete er mich, und wahrscheinlich drückte mein Gesicht Verwunderung aus, denn der Mann versuchte, seinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen; dies misslang, und er stotterte: »Wissen Sie ... dort ...« (er wies mit
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