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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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sprach sich herum, dass er moderner sei als der alteCourvoisier. Nun war mein Onkel Léon noch immer Gemeindearzt, aber das Fixum, das er neben dem Hause für die Funktion erhielt, war gering genug. Seine Praxis ging zurück. Das Wenige, das er erspart hatte, war für Berthes Aussteuer draufgegangen. »Wenn man etwas tut, soll man es recht tun«, hatte er auf seiner Frau Vorhaltungen geantwortet. Es kamen aber neue Leute in den Gemeinderat, ein neuer Bürgermeister, und meinem Onkel wurde das Haus auf den einunddreissigsten Dezember gekündigt. Er hing an dem Haus, das er dreissig Jahre lang bewohnt hatte. Es war ein alter Bau aus der Barockzeit, ganz mit Glyzinien überwuchert, und es wohnte sich gut in ihm. Mein Onkel ging betteln, obwohl es ihm schwer wurde. Betteln ist vielleicht übertrieben, er suchte einen Käufer für das Haus, einen Käufer, dem er gerne Miete zahlen würde, bis – wie mein Onkel sagte – »bis ich den Löwenzahn an der Wurzel benagen werde«. Er fand keinen. Der alte Bürgermeister sprach vom Krieg (der hatte gerade begonnen), von der Unsicherheit der Zeiten, Berthe wollte sich nicht an ihre Schwiegereltern wenden: »Du verstehst, Papa«, sagte sie, »ich kann das nicht. Sie lassen es mich immer fühlen, dass ihr Sohn eine viel bessere Partie hätte machen können. Sie mögen dich nicht, das fühle ich. Du musst dich eben einrichten.«
    »Einrichten!« wiederholte Onkel Léon, als er am Abend aus der Stadt zurückkam. Trotzdem er beim Coiffeur gewesen war, stand sein weisses Haar widerspenstig vom runden Kopf ab. »Hundert Franken im Monat will sie uns geben, hat sie gesagt. Damit sollen wir leben. Und die Calves haben eine Villa. Vielleicht hat's die Berthe auch nicht leicht«, seufzte er noch. Tante Amélie hatte Tränen in den Augen, sie war leicht gerührt. Ich war wütend auf Berthe. Dann klopfte es ans Fenster. Onkel Léon nahm ein schwarzes Tuch, breitete es über die Lampe. Der Riegel kreischte, ein dunkler Schatten huschte ins Zimmer; Tante Amélie ging still hinaus, kam wieder. Sie trug einen Teller in der Hand mit einem Stück Fleisch. Die Eule hockte auf demTisch, sehr ruhig und sehr weise, sie verzehrte das Fleisch mit vielem Anstand. Onkel Léon lachte. »Der Vogel der Athene«, er sprach das »th« englisch aus, und nie hätte er die Göttin der Weisheit anders genannt, etwa Minerva, »der ist uns geblieben. Ich bin neugierig, ob er bei uns bleiben wird.« Da nickte die Eule, ihr krummer Schnabel verschwand im dichten Federkleid ihrer Brust, dann sass sie wieder still und glich einem riesigen Briefbeschwerer. Plötzlich flog sie auf, stiess Laute aus, die an das zarte Klagen von jungen Katzen erinnerten, flog auf und mit ausgebreiteten Schwingen ein paarmal durchs Zimmer, dann zum Fenster hinaus. Die ganze Nacht klagte sie in den Bäumen. Es war weder schauerlich noch störend, eher tröstend. Ich habe meinen Onkel nur einmal weinen sehen. Das war, als in den Zeitungen die Nachricht kam, die grosse Bibliothek in Löwen sei eingeäschert worden. Er murmelte vor sich hin, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, die Barbaren hätten seine Jugend verbrannt. Dann fluchte er über sich selbst, über seine Rührseligkeit, erzählte einige Studentenstreiche, die lustig sein sollten. Sie wirkten müde. Im Oktober starb Jules Calves Mutter und hinterliess ihrem Sohn ihr gesamtes Vermögen; eine Klausel bestimmte, dass Jules seinem Vater bis an dessen Lebensende eine Rente auszahlen sollte.
    Als Onkel Léon die Todesanzeige in der Zeitung gelesen hatte, freute er sich. »Nun wird alles gut«, sagte er, »nun kann Berthe das Haus kaufen.« Aber es kam anders. Berthe schrieb einen Brief (sie kam nicht einmal selber), in welchem sie mitteilte, ihr Mann habe über das Vermögen schon anderweitig verfügt, auch hätte er verschiedene schwere finanzielle Lasten auf sich nehmen müssen, aber sie sei bereit, ihre Eltern nach Möglichkeit zu unterstützen. Eine bescheidene Wohnung werde sich wohl in Jussy finden. Zwei Tage sprach Onkel Léon kein Wort. Er ging morgens und abends ins Dorf, trank dort beim Gastwirt Raymond seine Flasche Bier, hustete viel, besonders in der Nacht. Als Tante Amélie ihn einmal mit »mein armer Alter«anredete, wurde er direkt böse, seine Erbostheit war schweigsam und drohend. Am liebsten hockte er am Abend vor dem offenen Kamin, bei gelöschter Lampe, starrte ins Feuer (der Oktober war kühl) und hob manchmal die Augen zur Eule auf, die auf dem

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