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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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extrem ehrgeiziger Mensch, der keinen Widerspruch duldet, zerschlug Nina Wladimirowna im damaligen Höheren Offizierskorps der Kolyma die schändlichen Privilegien all dieser Chefs und eröffnete selbst den Kampf gegen die Schändlichkeit mit denselben Mitteln.
    Als außerordentlich fähige Verwalterin brauchte Nina Wladimirowna nur eins: dass sie ihre Wirtschaft überblicken und alle Arbeiter direkt beschimpfen konnte.
    Ihre Beförderung auf die Stelle des Chefs der Kreissanitätsabteilung führte nicht zum Erfolg. Mithilfe von Schriftstücken zu kommandieren und zu lenken war nicht ihre Stärke.
    Eine Reihe von Konflikten mit der obersten Leitung – und schon steht Sawojewa auf den schwarzen Listen.
    An der Kolyma sorgen alle Chefs für sich selbst. Nina Wladimirowna stellte keine Ausnahme dar. Aber sie schrieb wenigstens keine Denunziationen über die anderen Chefs – und hatte zu leiden.
    Nun schrieb man über sie Denunziationen, man lud sie vor, verhörte sie, gab ihr Ratschläge – im engen Kreis der Parteileitung.
    Als dann ihr Landsmann und Beschützer Oberst Gagkajew abreiste, auch wenn es auf einen Posten in Moskau war, geriet Nina Wladimirowna in Bedrängnis.
    Ihr Zusammenleben mit dem Feldscher Lesnjak führte zu Sawojewas Ausschluss aus der Partei. Und in diesem Moment lernte ich die berühmte »Schwarze Mama« kennen. Sie ist noch heute in Magadan. Auch Boris Lesnjak ist in Magadan, auch ihre Kinder sind in Magadan. Nach der Freilassung von Boris Lesnjak hat ihn Nina Wladimirowna sofort geheiratet, aber das änderte nichts an ihrem Schicksal.
    Nina Wladimirowna gehörte immer irgendeiner Partei an oder stand selbst an der Spitze dieser Partei, sie verwandte unmenschliche Energie darauf, zu erreichen, dass irgendein Schuft entlassen wird. Ebenso unmenschliche Energie wurde darauf verwandt, irgendeine lichte Persönlichkeit auszustechen.
    Boris Lesnjak trug andere, sittliche Ziele in ihr Leben, trug eine Kultur von jenem Niveau in ihr Leben, auf dem er selbst erzogen war. Boris ist der geborene »Buchhalter«, seine Mutter hat Gefängnis und Verbannung abgebüßt. Seine Mutter ist Jüdin. Sein Vater ist Mitarbeiter der KWShD , Zollbeamter.
    Boris fand die Kraft, seinen Beitrag zu Fragen des persönlichen Anstands zu leisten, er hatte sich ein paar Dinge geschworen und hielt seine Schwüre.
    Nina Wladimirowna folgte ihm, lebte nach seinen Werten – und hasste all ihre Kollegen, die Vertragsarbeiter.
    Der Güte Lesnjaks und Sawojewas in meiner schwersten Zeit bin ich auch verpflichtet.
    Ich werde nicht vergessen, wie mir Lesnjak jeden Abend, buchstäblich jeden Abend Brot oder eine Handvoll Machorka in die Baracke brachte – kostbare Dinge in meiner damaligen Halbexistenz eines fortgeschrittenen
dochodjaga
von der Kolyma.
    Jeden Abend wartete ich auf diese Stunde, dieses Stückchen Brot, diese Prise Machorka und fürchtete, dass Lesnjak nicht kommt, dass all das meine Einbildung, mein Traum, mein Hungertrugbild ist.
    Aber Lesnjak kam, erschien auf der Schwelle.
    Ich wusste damals gar nicht, dass Nina Wladimirowna, die Oberärztin, mit meinem Wohltäter befreundet war. Ich nahm diese Almosen als Wunder. Alles Gute, das Lesnjak für mich tun konnte, tat er: Arbeit, Essen, Erholung. Er war mit der Kolyma vertraut. Aber handeln konnte er nur durch Vermittlung Nina Wladimirownas, der Oberärztin, und sie war ein starker Mensch, war zwischen Intrigen, Zänkereien und Ränken groß geworden. Lesnjak zeigte ihr eine andere Welt.
    Ich hatte keine Dysenterie.
    Meine Krankheit nannte sich Pellagra, alimentäre Dystrophie, Skorbut, extreme Polyavitaminose, aber nicht Dysenterie.
    Nach vielleicht zweiwöchiger Behandlung und zweitägiger ungesetzlicher Erholung wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen und zog meine Klamotten an, übrigens vollkommen gleichgültig, schon am Ausgang des Segeltuchzelts, aber noch darin – und im allerletzten Moment wurde ich in Doktor Kalembets Kabinett gerufen, in denselben Verschlag mit Mephisto, in dem mich Lebedew empfangen hatte.
    Ob er selbst dieses Gespräch arrangiert oder Lesnjak es ihm geraten hatte, weiß ich nicht. Kalembet war weder mit Lesnjak noch mit Sawojewa befreundet.
    Ob Kalembet in meinen hungrigen Augen einen besonderen Glanz entdeckt hatte, der ihm Hoffnungen machte, weiß ich nicht. Aber während der Hospitalisierung hatte man mein Bett mehrmals zu unterschiedlichen Nachbarn gerückt, den hungrigsten, den hoffnungslosesten unter den »Buchhaltern«. So stellte

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