Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
flüssig, fest, halbflüssig und halbfest, geformt und ungeformt, breiig sein … – all diese wenigen Antworten hatte Aleksandr Iwanowitsch im Kopf.
Noch wichtiger war die letzte Rubrik, die »Häufigkeit« hieß. Verfasser von Häufigkeitswörterbüchern könnten sich auf die Priorität von Aleksandr Iwanowitsch und Doktor Kalembet besinnen.
Eben die »Häufigkeit«, das Häufigkeitswörterbuch des Hinterns – das war diese Sperrholztafel.
In dieser Rubrik also machte Aleksandr Iwanowitsch mit einem abgekauten Kopierstift einen Strich, wie in einer kybernetischen Maschine, und markierte eine Einheit des Kotausstoßes.
Doktor Kalembet war sehr stolz auf diesen schlauen Einfall, der es erlaubte, Biologie und Physiologie zu mathematisieren – mit der Mathematik in die Prozesse des Gedärms einzudringen.
Er hat sogar auf irgendeiner Konferenz den Nutzen seiner Methode dargelegt und betont, seine Priorität betont; vielleicht war das eine Zerstreuung des Professors der Militärmedizinischen Akademie, ein Spotten über das eigene Schicksal – wenn es nicht eine ganz ernstliche Verrücktheit des Nordens war, ein Trauma, das die Psychologie nicht nur der
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betraf.
Aleksandr Iwanowitsch führte mich zu meiner Liege, und ich schlief ein. Ich schlief bewusstlos, zum ersten Mal auf dem Boden der Kolyma nicht in einer Arbeiterbaracke, nicht im Isolator und nicht in der Rotte mit verschärftem Regime.
Beinahe augenblicklich – vielleicht waren auch viele Stunden, Jahre, Jahrhunderte vergangen – erwachte ich vom Licht der »Fledermaus«, einer Laterne, die mir direkt ins Gesicht leuchtete, obwohl es eine weiße Nacht und alles auch so gut zu sehen war.
Jemand im weißen Kittel, im Halbpelz, den er sich über dem Kittel umgelegt hatte – die Kolyma ist für alle gleich –, leuchtete mir ins Gesicht. Der engelgleiche Doktor Lebedew ragte gleich daneben auf, ohne Halbpelz um die Schultern.
Eine Stimme über mir klang in fragendem Ton:
»Buchhalter?«
»Buchhalter, Pjotr Semjonytsch«, bestätigte der engelgleiche Doktor Lebedew, der, der meine »Daten« in die Krankengeschichte eingetragen hatte.
Als Buchhalter bezeichnete der Abteilungschef die gesamte Intelligenz, die in diesen verheerenden Kolyma-Sturm des Jahres siebenunddreißig geraten war.
Kalembet war selbst auch Buchhalter.
Buchhalter war auch der Feldscher der chirurgischen Abteilung Lesnjak, Student im ersten Kurs der Medizinischen Fakultät der ersten MGU , mein Moskauer Landsmann und Hochschulkollege, der die allergrößte Rolle spielte für mein Schicksal an der Kolyma. Er arbeitete nicht in Kalembets Abteilung. Er arbeitete bei Traut, in der chirurgischen Abteilung, im Nachbarzelt – als Operationspfleger.
In mein Schicksal hatte er sich noch nicht eingemischt, wir kannten einander noch nicht.
Buchhalter war auch Andrej Maksimowitsch Pantjuchow, der mich auf den Feldscherlehrgang für Häftlinge schickte, was im Jahr 1946 mein Schicksal entschied. Der Abschluss dieses Feldscherlehrgangs, das Diplom über die Berechtigung zu pflegen war die Antwort gleich auf all meine damaligen Probleme. Doch bis 1946 war es noch weit, drei ganze Jahre, für die Begriffe der Kolyma eine Ewigkeit.
Buchhalter war auch Walentin Nikolajewitsch Traut, ein Chirurg aus Saratow, der – von deutscher Abkunft – mehr abbekam als andere, und selbst das Ende seiner Haftzeit löste seine Probleme nicht. Erst der Zwanzigste Parteitag beruhigte Traut, brachte seinen begabten Chirurgenhänden Sicherheit und Ruhe.
Als Person war Traut von der Kolyma vollkommen gebrochen, er ängstigte sich vor jedem Chef, schwärzte an, wen die Chefs befahlen, und verteidigte keinen, dem die Chefs zusetzten. Doch die Chirurgenseele und die Chirurgenhände hatte er sich bewahrt.
Die Hauptsache aber – Buchhalterin war auch Nina Wladimirowna Sawojewa, Ossetin und Vertragsarbeiterin, Parteimitglied und Oberärztin von »Belitschja«, eine junge Frau von etwa dreißig Jahren.
Diese Frau konnte viel Gutes tun. Und viel Böses. Wichtig war, die heroische, unglaubliche Energie der vielgerühmten Verwalterin von rein männlichem Typus in die richtige Richtung zu lenken.
Nina Wladimirowna war allen hohen Fragen sehr fern. Das jedoch, was sie verstand, verstand sie gründlich, und sie bemühte sich, ihre Einschätzung oder einfach ihre Macht praktisch zu beweisen. Die Macht von Bekanntschaften, von Protektion, von Einfluss und Lüge kann man auch für eine gute Sache einsetzen.
Als
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