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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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gerade erst aus dem Krieg – er beherrschte sich. Dieser Kranke hatte einen hohen Rang, Oberst-Schulterstücke, er war Kreiskriegskommissar eines der acht Bezirke an der Kolyma.
    Gegen Ende des Kriegs hatte Leutnant Kononow ein Regiment kommandiert, er wollte sich von der Armee nicht trennen, aber für Friedenszeiten brauchte es andere Kenntnisse. Allen, die die Umattestierung durchliefen, bot man an, weiter im selben Rang in der Armee zu dienen, jedoch in den Truppen des MWD, die für die Lagerwache eingesetzt waren. 1946 wurde die gesamte Lagewache an Kadertruppenteile übergeben, nicht der WOChR , sondern Kaderoffizieren mit Tressen, mit Orden. Alle behielten den früheren Rang, die Polarration, den Satz, den Urlaub, alle Polarvergünstigungen des Dalstroj. Kononow – er hatte Frau und Tochter – machte sich schnell einen Begriff; in Magadan eingetroffen, lehnte er sich auf und trat die Lagerarbeit nicht an. Frau und Tochter schickte er aufs Festland, er selbst erhielt die Ernennung auf die Planstelle eines Kreiskriegskommissars. Sein »Revier« verteilte sich entlang der Trasse über Hunderte Kilometer – die Menschen, die der Kreiskriegskommissar zu berücksichtigen hatte, lebten zehn Kilometer abseits davon. Kononow verstand schnell, dass hier jemanden zu sich zu rufen bedeutet, die Zeit der Gerufenen zu vergeuden. In einer Woche erreichten sie die Siedlung, in der der Kriegskommissar wohnte. Eine Woche zurück. Darum wurde die gesamte Erfassung und Korrespondenz über durchreisende Fahrzeuge abgewickelt, und einmal pro Monat und öfter bereiste Kononow seinen Kreis selbst im Wagen. Mit der Arbeit kam er zurecht, doch er wartete nicht auf eine Beförderung, sondern auf das Ende des »Nordens« – die Versetzung, einfach die Demobilisierung, ohne einen Gedanken an die Oberst-Schulterstücke. All das zusammen – der Norden und die Ungewissheit – führte dazu, dass Kononow allmählich zu trinken anfing. Eben darum konnte er nicht erklären, wie in seine Speiseröhre ein sich groß anfühlender Knochen geraten konnte, der auf die Luftröhre drückte – er sprach sogar nur mühsam flüsternd.
    Kononow hätte mit dem Fremdkörper in seiner Speiseröhre natürlich bis Magadan fahren können, wo es in der Verwaltung Ärzte gab, die ihm Hilfe geleistet hätten … Aber Kononow hatte etwa ein Jahr im Kriegskommissariat gearbeitet und wusste, dass man das »Linke Ufer« lobte, das große Häftlingskrankenhaus. Die Krankenhausarbeiter – Männer und Frauen – hatten ihre Soldbücher bei Kononow in Verwahrung. Als der Knochen Kononow quer im Hals steckte und klar war, dass ihn ohne Ärzte keine Kraft herausholen wird, nahm Kononow einen Wagen und fuhr ins Häftlingskrankenhaus am Linken Ufer.
    Krankenhauschef war damals Winokurow. Ihm war bewusst, wie das Prestige des Krankenhauses wachsen wird, das er gerade übernommen hatte, wenn die Operation erfolgreich verläuft. Die größte Hoffnung lag auf der Wojatschek-Schülerin, denn solche Spezialisten gab es in Magadan nicht. Oje, Nowikowa hatte auch in Magadan gearbeitet, noch vor einem Jahr: »Versetzung ans Linke Ufer oder Entlassung aus dem Dalstroj.« – »Ans Ufer, ans Ufer«, hatte Nowikowa in der Kaderabteilung geschrien. Vor Magadan hatte Nowikowa in Aldan gearbeitet, vor Aldan – in Leningrad. Von überall wurde sie immer weiter nach Norden vertrieben. Hundert Versprechungen, tausend gebrochene Eide. Am Ufer gefiel es ihr, sie nahm sich zusammen. Ihre hohe Qualifikation war in jeder Bemerkung von Anna Sergejewna zu spüren. Als Otolaryngologin behandelte sie Freie wie Häftlinge, begleitete die Kranken, machte Operationen und beriet – und plötzlich begann das Quartalssaufen, die Kranken blieben ohne Überwachung, die Freien reisten ab, und die Häftlinge wurden vom Feldscher behandelt. Anna Sergejewna schaute nicht einmal in der Abteilung vorbei.
    Als aber Kononow anreiste und klar war, dass man eilig würde operieren müssen, wurde befohlen, Anna Sergejewna auf die Beine zu bringen. Doch die Schwierigkeit bestand darin, dass Kononow lange im Krankenhaus liegen musste. Das Entfernen eines Fremdkörpers ist eine sterile Operation. Natürlich, im großen Krankenhaus gab es zwei chirurgische Abteilungen – eine septische und eine sterile, unterschiedliches Personal – in der sterilen besser ausgebildet, in der septischen schlechter. Man muss verfolgen, wie die Wundheilung verläuft, umso mehr – in der Speiseröhre. Natürlich, ein Einzelzimmer wird

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