Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
wiederholte nur Wyschinskij.
Ein Verbrechen zu finden und es einem rein Politischen anzuhängen war auch das Wesen des »Amalgams«.
Formal jedoch ist die Kolyma ein Sonderlager wie Dachau für Rückfalltäter – kriminelle wie politische gleichermaßen. Sie wurden auch gemeinsam gehalten. Auf Verordnung von oben. Auf eine prinzipielle theoretische Verordnung von oben hatte Garanin die kriminellen Verweigerer von Freunden des Volkes in Volksfeinde verwandelt und wegen Sabotage nach 58 Punkt 14 vor Gericht gestellt.
So brachte es den meisten Nutzen. Die größten Ganoven wurden achtunddreißig erschossen, den kleineren gab man für Verweigerungen fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Jahre. Man brachte sie gemeinsam mit den
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mit Artikel achtundfünfzig unter und gab damit den Ganoven die Möglichkeit, komfortabel zu leben.
Garanin war keineswegs Anhänger der Kriminellen. Das Hin und Her mit den Rückfalltätern war Bersins Manie. Bersins Erbe wurde von Garanin auch in dieser Hinsicht revidiert.
Wie in einem Diaskop aus dem Schulunterricht, tauchten im Jahrzehnt um den Krieg, von siebenunddreißig bis siebenundvierzig, vor den schon in allem bewanderten, schon an alles gewöhnten Augen der Gefängnischefs, der Eiferer der Lagerakte, der Enthusiasten der
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– einander mal ersetzend, mal ergänzend, wie in Beachs Experiment in der Verschmelzung von Strahlenbündeln –, Gruppen, Kontingente, Kategorien von Häftlingen auf, je nachdem, wie der Strahl der Rechtsprechung mal die eine, mal die andere Gruppe beleuchtete – kein Strahl, sondern ein Schwert, das Köpfe abhackte und ganz real umbrachte.
Im beleuchteten Fleck des Diaskops, das der Staat betätigte, erschienen einfache Häftlinge, sogenannte ITL – nicht ITR, Ingenieure und technische Mitarbeiter, sondern ITL, Arbeits-Besserungs-Lager. Aber oft war die Ähnlichkeit der Buchstaben auch eine Ähnlichkeit der Schicksale. Die ehemaligen Häftlinge, ehemaligen
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– eine ganze gesellschaftliche Gruppe, das ewige Brandmal der Rechtlosigkeit. Die Häftlinge der Zukunft – alle, deren Fälle schon zu den Akten genommen, aber noch nicht vollständig abgewickelt waren, und die, für deren Verfahren die Abwicklung noch nicht begonnen hatte.
In einem Scherzlied aus den Besserungsanstalten der zwanziger Jahre – den ersten Arbeitskolonien – verglich ein namenloser Autor, ein Bojan oder Pimen des kriminellen Rückfalls, in Versen das Schicksal der Freiheit mit dem Schicksal der Strafanstalt, ganz zum Vorteil der zweiten:
Vor uns liegt die Freiheit,
Und vor euch – was?
Dieser Witz war gar kein Witz mehr in den dreißiger und vierziger Jahren. In den höchsten Sphären plante man die Verschickung ins Lager aus der Verbannung, die Ausweisung aus den Städten oder, wie es in den Instruktionen heißt, Ortschaften von minus eins bis minus fünfhundert .
Drei Vorführungen bei der Miliz wurden gemäß einer klassischen Arithmetik einer Vorstrafe gleichgesetzt. Und zwei Vorstrafen gaben juristischen Anlass, die Gewalt des Gitters, der Zone anzuwenden.
An der Kolyma selbst existierten in jenen Jahren – jeweils mit eigener Verwaltung, mit eigenem Versorgungsstab – die Kontingente A, B, W, G und D .
Das Kontingent »D« bildeten für die geheimen Uranbergwerke mobilisierte, durchaus freie Bürger, die an der Kolyma erheblich geheimer bewacht wurden als jeder Baideman.
Neben dem Uranbergwerk, wohin aus Geheimhaltungsgründen gewöhnliche
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nicht gelassen wurden, lag das Bergwerk Kartoshnyj. Dort gab es nicht nur die Nummer und die gestreifte Kleidung, dort standen Galgen und wurden Urteile durchaus real vollstreckt, unter Wahrung aller Gesetzlichkeiten.
Neben dem Bergwerk Katorshnyj lag das Bergwerk des Berlag, ebenfalls ein Nummernlager, aber keine
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, wo der Häftling die Nummer – ein Stück Blech, eine Plakette – auf dem Rücken trug und unter verstärktem Konvoj mit der doppelten Anzahl Hunde gehalten wurde.
Ich war selbst dorthin unterwegs, kam aber nicht hin, für das Berlag wurde nach dem Fragebogen aufgenommen. Viele meiner Kameraden kamen in diese Lager mit den Nummern.
Dort war es nicht schlechter, sondern besser als in einem gewöhnlichen Arbeitsbesserungslager des allgemeinen Regimes.
Unter dem allgemeinen Regime ist der Häftling Beute der Ganoven und Aufseher und der Brigadiere, ihrerseits Häftlingen. In den Nummerlagern bestand die Versorgung aus Freien, und für die Küche und das Lädchen wurden ebenfalls Freie
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