Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
die alle glauben – ist die bürokratischste Form der Häftlingshoffnungen.
Die Regierung antwortet auf die traditionellen Erwartungen ebenfalls mit einem traditionellen Schritt – sie erklärt jene Amnestie.
Von dieser Sitte wich auch die Regierung der Nach-Stalin-Epoche nicht ab. Ihr schien, diesen traditonellen Akt zu begehen, diese Geste der Zaren zu wiederholen bedeute, eine moralische Pflicht vor der Menschheit zu erfüllen, und schon die Form der Amnestie in jeder Variante sei voller bedeutsamen und traditionellen Inhalts.
Zur Erfüllung der moralischen Pflicht jeder neuen Regierung gibt es eine alte traditionelle Form, auf die zu verzichten bedeutet, seine Pflicht vor der Geschichte und dem Land zu verletzen.
Die Amnestie wurde vorbereitet, sogar in aller Eile, um das klassische Muster zu erfüllen.
Berija, Malenkow und Wyschinskij mobilisierten getreue und weniger getreue Juristen – sie gaben ihnen die Idee einer Amnestie vor, alles Übrige war Sache der bürokratischen Technik.
Die Amnestie kam nach dem 5. März 1953 an die Kolyma zu Menschen, die den gesamten Krieg in den Pendelschwüngen des Häftlingsschicksals von blinden Hoffnungen bis zur tiefsten Enttäuschung gelebt hatten – bei jeder militärischen Niederlage und jedem militärischen Erfolg. Und es hatte niemand Weitblickenden, Weisen gegeben, der ermittelt hätte, was besser, vorteilhafter, heilbringender war für den Häftling – die Siege oder die Niederlagen des Landes.
Die Amnestie kam zu den davongekommenen Trotzkisten und Kürzelträgern , die am Leben geblieben waren nach Garanins Erschießungen, die die Kälte und den Hunger der Goldmine der Kolyma von siebenunddreißig überlebt hatten – Stalins Vernichtungslager.
Zu allen, die nicht umgebracht, erschossen, mit den Stiefeln und Kolben der Begleitposten, Brigadiere, Arbeitsanweiser und Vorarbeiter totgeschlagen waren – zu allen, die davongekommen waren und den vollen Preis für das Leben gezahlt hatten – einen doppelten, dreifachen Aufschlag auf die fünf Jahre Haft, die der Häftling aus Moskau an die Kolyma brachte …
Es gab keine Häftlinge an der Kolyma, die nach Artikel achtundfünfzig zu fünf Jahren verurteilt waren. Die Fünfjährigen – das ist die schmale, sehr dünne Schicht derer, die 1937 verurteilt wurden, noch vor dem Treffen Berijas mit Stalin und Shdanow im Juni 1937 auf Stalins Datscha, auf dem die fünfjährigen Haftzeiten vergessen waren und Methode Nummer drei zur Beschaffung von Aussagen zugelassen wurde.
Doch auf dieser kurzen Liste einer winzigen Zahl von Fünfjährigen gab es kurz vor dem Krieg und während des Kriegs nicht einen, der nicht eine Zugabe von zehn, fünfzehn, fünfundzwanzig Jahren erhalten hätte.
Und jene Raren unter den raren Fünfjährigen, die keine Zugabe erhalten hatten, nicht gestorben, nicht im Archiv Nummer drei gelandet waren – waren längst freigelassen und hatten einen Dienst angetreten, das Töten, als Vorarbeiter, Aufseher, Brigadier, Abschnittschef in jenem selben Gold, hatten selbst begonnen, ihre ehemaligen Kameraden umzubringen.
Fünf Jahre Haft hatten an der Kolyma 1953 nur in lokalen Prozessen nach Sozialartikeln Verurteilte. Das waren sehr wenige. Bei ihnen waren die Untersuchungsführer einfach zu faul gewesen, ihnen einen Achtundfünfziger anzuhängen, aufzudrücken. Anders gesagt: Die Lagerakte war so überzeugend, so klar ein
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, dass es nicht nötig war, zu dem alten, aber fürchterlichen Werkzeug von Artikel achtundfünfzig zu greifen, einem universalen Artikel, der weder Geschlecht noch Alter schonte. Wer als Häftling seine Haftzeit nach achtundfünfzig abgesessen hatte und zur immerwährenden Ansiedlung belassen wurde, drehte es so, dass man ihn noch einmal verschickte, jedoch für einen von allen – den Menschen, Gott und dem Staat – geachteten Diebstahl oder für eine Unterschlagung. Kurz, wer sich eine Haftzeit nach einem Sozialartikel einfing, war durchaus nicht traurig.
Die Kolyma war ein Lager nicht nur der politischen, sondern auch der kriminellen Rückfalltäter.
Der Gipfel der juristischen Vollkommenheit der Stalinzeit – darin trafen sich beide Schulen, beide Pole des Strafrechts, Krylenko und Wyschinskij – waren die »Amalgame«, das Zusammenkleben von zwei Verbrechen, einem kriminellen und einem politischen. Und Litwinow – der Satz in seinem berühmten Interview, in der UdSSR gebe es keine politischen Gefangenen, es gebe dagegen Staatsverbrecher –, Litwinow
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