Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
genauso macht man es auch in den zahllosen Lagerambulatorien.
All das war mir gut bekannt. In Baragon sah ich, dass der Riva-Rocci völlig in Ordnung war, der Feldscher, den ich ablöste, hatte ihn nur nicht verwendet.
Auf dem Feldscherlehrgang hatte man mich für die Verwendung des Apparates gut ausgebildet. Ich hatte eine Million Mal geübt während der Lehrzeit, man trug mir auf, sämtlichen Insassen der Invalidenbaracken den Blutdruck zu messen. Auf den Riva-Rocci war ich gut vorbereitet.
Ich übernahm den Listenbestand, zweihundert Mann, Medikamente, Instrumente, Schränke. Das ist kein Scherz – ich war freier Feldscher, wenn auch ehemaliger
seka
; ich wohnte schon außerhalb der Zone, nicht in einem Einzel-»Kabäuschen« in der Baracke, sondern im freien Wohnheim mit vier Liegen – viel karger, kälter, ungemütlicher als mein Kabäuschen im Lager.
Aber ich musste vorwärts gehen, vorwärts schauen.
Die unwesentlichen Veränderungen in meinem persönlichen Alltag bestürzten mich wenig. Alkohol trinke ich nicht, und im Übrigen war alles im Rahmen der allgemein menschlichen und also auch Häftlingsnorm.
Gleich in der ersten Sprechstunde erwartete mich an der Tür ein Mann von etwa vierzig Jahren in Häftlingsjacke, um mich unter vier Augen zu sprechen.
Ich führe im Lager keine Gespräche unter vier Augen, sie alle enden mit dem Angebot von Bestechungsgeld, wobei das Versprechen oder die Bestechung einfach so gemacht werden, aufs Geratewohl, für alle Fälle. Darin liegt ein tiefer Sinn, und irgendwann werde ich diese Frage ausführlich untersuchen.
Hier, in Baragon, war etwas im Ton des Kranken, das mich seine Bitte anhören ließ.
Der Mann bat, ihn noch einmal zu untersuchen, obwohl er die allgemeine Untersuchung schon durchlaufen hatte – etwa vor einer Stunde.
»Was ist der Grund für diese Bitte?«
»Bürger Feldscher«, sagte der Mann. »Es ist so, Bürger Feldscher, dass ich krank bin, aber man gibt mir nicht die Freilassung.«
»Wie denn das?«
»Ja, der Kopf tut mir weh, es pocht in den Schläfen.«
Ich schrieb ins Buch: Nowikow Michail Iwanowitsch.
Ich fühlte den Puls. Der Puls polterte und raste, unmöglich zu zählen. Erstaunt hob ich die Augen von der Sanduhr.
»Können Sie«, flüsterte Nowikow, »diesen Apparat dort benutzen?«, er zeigte auf den Riva-Rocci auf der Ecke des Tisches.
»Natürlich.«
»Und Sie können mir den Blutdruck messen?«
»Bitte sehr, meinetwegen sofort.«
Nowikow zog sich eilig aus, setzte sich an den Tisch und legte die Manschette um seine »Manschetten«, d.h. Arme, genauer Oberarme.
Ich steckte das Phonendoskop in die Ohren. Der Puls begann in lauten Schlägen zu pochen, das Blei des Riva-Rocci stürzte rasend nach oben.
Ich notierte die Anzeigen des Riva-Rocci – zweihundertsechzig zu hundertzehn.
»Den anderen Arm!«
Das Ergebnis war dasselbe.
Ich schrieb fest ins Buch: »Von der Arbeit zu befreien. Diagnose – Hypertonie 260/110.«
»Das heißt, ich muss morgen nicht arbeiten?«
»Natürlich.« Nowikow brach in Tränen aus.
»Was ist denn deine Frage? Wo ist der Konflikt?«
»Sehen Sie, Feldscher«, sagte Nowikow, er vermied das »Bürger« hinzuzufügen, als wollte er mich daran erinnern, dass ich ein ehemaliger
seka
bin. »Der Feldscher, den Sie abgelöst haben, konnte den Apparat nicht benutzen und sagte, dass der Apparat kaputt ist. Und ich bin Hypertoniker schon von Minsk her, vom Festland, von der Freiheit. An die Kolyma hat man mich gebracht, ohne den Blutdruck zu prüfen.«
»Nun, vorläufig bekommst du die Befreiung, und dann schreibt man dich arbeitsunfähig, und du fährst wenn nicht aufs Große Land, dann nach Magadan.«
Gleich am nächsten Tag wurde ich ins Kabinett zu Tkatschuk gerufen, dem Chef unseres Lagerpunkts im Rang eines Hauptfeldwebels. Im Prinzip soll den Posten eines Lagerpunktchefs ein Leutnant besetzen: Tkatschuk klammerte sich sehr an seine Stelle.
»Du hast hier Nowikow von der Arbeit befreit. Ich habe es überprüft – er ist ein Simulant.«
»Nowikow ist kein Simulant, sondern Hypertoniker.«
»Ich rufe an und bestelle eine Kommission. Eine ärztliche. Und dann werden wir ihn von der Arbeit befreien.«
»Nein, Genosse Natschalnik«, sagte ich, Tkatschuk auf Freienart anredend, ich war mehr gewöhnt an »Bürger Natschalnik« – noch vor einem Jahr. »Nein, Genosse Natschalnik. Zuerst befreie ich ihn von der Arbeit, und Sie rufen die Kommission aus der Verwaltung. Die Kommission bestätigt
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