Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
angeheuert. Die Nummer auf dem Rücken ist keine große Sache. Wenn man dir nur das Brot nicht wegnimmt, wenn nur die eigenen Kameraden dich nicht zur Arbeit zwingen und das Resultat, das die Planerfüllung verlangt, mit Stöcken herausprügeln. Der Staat bat die »Volksfreunde«, bei der physischen Vernichtung der Volksfeinde zu helfen. Und die »Freunde« – Ganoven und
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– taten das auch im unmittelbaren physischen Sinn.
Ein weiteres Bergwerk lag in der Nähe, in dem die zu Gefängnis Verurteilten arbeiteten, aber die
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ist günstiger – die Haftzeiten wurden ersetzt durch die »frische Luft« des Arbeitslagers. Wer die Haftzeit im Gefängnis verbrachte, der überlebte, wer sie im Lager absaß – der starb.
Im Krieg fiel die Zufuhr von Kontingent auf Null. Allerlei Entlastungskommissionen schickten die Gefängnisinsassen an die Front und nicht an die Kolyma – die Schuld in Marschrotten abbüßen.
Die Listenbelegschaft der Kolymabewohner sank katastrophal – obwohl niemand von der Kolyma aufs Große Land an die Front gebracht wurde, kein einziger Häftling an die Front ging, auch wenn natürlich die Anträge, die Schuld abzubüßen, sehr zahlreich waren – von allen Artikeln außer den Ganoven.
Die Leute starben den natürlichen Kolyma-Tod, und das Blut in den Adern des Sonderlagers begann langsamer zu kreisen, ständig gab es Thromben und Stockungen.
Frisches Blut versuchte man durch Kriegsverbrecher zuzuführen. In die Lager brachte man fünfundvierzig und sechsundvierzig ganze Dampfer mit Neulingen, mit Repatrianten, die man vom Dampfer ans Magadaner Felsenufer entlud, einfach nach einer Liste, ohne Verfahren und weitere Formalitäten. Die Formalitäten hinkten, wie immer, dem lebendigen Leben hinterher. Nach einer Liste auf Papirossapapier, zerknüllt von den schmutzigen Händen der Begleitposten.
All diese Leute (es waren Zehntausende) hatten einen durchaus formalen juristischen Platz in der Lagerstatistik – die Unregistrierten.
Hier gab es wiederum unterschiedliche Kontingente – das Feld der juristischen Phantasie jener Jahre wartet noch auf seine gesonderte Beschreibung.
Es gab (sehr große) Gruppen mit durchaus formal »ausgestellten« Urteilen: »Zu sechs Jahren zur Prüfung.«
Je nach Verhalten entschied sich das Schicksal eines solchen Häftlings ganze sechs Jahre an der Kolyma, wo auch sechs Monate eine unheilvolle, tödliche Frist sind. Doch es waren sechs Jahre, nicht sechs Monate und nicht sechs Tage.
Der größte Teil dieser Sechsjährigen starb an der Arbeit, die Überlebenden – kamen auf Beschluss des XX. Parteitags alle am selben Tag frei.
Mit den Unregistrierten – denen, die anhand von Listen an die Kolyma gekommen waren – befasste sich Tag und Nacht ein Justizapparat, der vom Festland angereist war. In den engen Erdhütten und Kolyma-Baracken liefen Tag und Nacht Verhöre, und Moskau traf die Entscheidungen – diesem fünfzehn, jenem fünfundzwanzig und dem dritten auch die Höchststrafe. An Freisprüche, an Lossprechungen kann ich mich nicht erinnern, aber ich kann nicht alles wissen. Vielleicht gab es auch Freisprüche und die volle Rehabilitation.
All diese Untersuchungshäftlinge und auch die Sechsjährigen, im Grunde ebenfalls Untersuchungshäftlinge, zwang man zur Arbeit nach allen Kolyma-Gesetzen: drei Verweigerungen – Erschießung.
Sie kamen an die Kolyma, um die toten Trotzkisten zu ersetzen oder die noch lebenden, aber so erschöpften, dass sie nicht nur kein Gramm Gold aus dem Stein herausschlagen konnten, sondern auch kein Gramm dieses Steins selbst.
Vaterlandsverräter und Marodeure füllten die während des Krieges entvölkerten Häftlingsbaracken und Erdhütten. Man erneuerte die Türen, wechselte die Gitter in den Baracken und Erdhütten, wickelte neuen Stacheldraht um die Zonen und frischte die Orte auf, an denen im Jahr achtunddreißig das Leben – richtiger wäre zu sagen: der Tod – sprudelte.
Außer nach Artikel achtundfünfzig waren zahlreiche Häftlinge nach einem besonderen Artikel verurteilt – nach hundertzweiundneunzig. Dieser Artikel hundertzweiundneunzig , ganz unbemerkt zu Friedenszeiten, erblühte in üppiger Blüte mit dem ersten Kanonenschuss, mit der ersten Bombenexplosion und dem ersten MP-Feuer. Artikel hundertzweiundneunzig umwuchs, so wie jeder ordentliche Artikel in einer solchen Situation, zu jener Zeit eilig mit Ergänzungen, Anmerkungen, Punkten und Paragraphen. Im Nu erschienen hundertzweiundneunzig
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