Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
»a«, »b«, »c«, »d«, »e« – bis das gesamte Alphabet ausgeschöpft war. Jeder Buchstabe dieses fürchterlichen Alphabets umwuchs mit Teilen und Paragraphen. So – hundertzweiundneunzig »a«, Teil eins, Paragraph zwei. Jeder Paragraph umwuchs mit Erläuterungen, und der bescheiden wirkende Artikel hundertzweiundneunzig wurde fett wie eine Spinne und erinnerte in seinen Konturen an einen Urwald.
Kein Paragraph, Teil, Punkt, Buchstabe strafte mit weniger als fünfzehn Jahren, keiner befreite von der Arbeit. Die Arbeit – das ist das Wichtigste, worum sich die Gesetzgeber sorgten.
Alle nach Artikel hundertzweiundneunzig Verurteilten erwartete an der Kolyma die unvermeidliche veredelnde Arbeit – nur allgemeine Arbeiten mit Hacke, Schaufel und Schubkarre. Und trotzdem war das nicht Artikel achtundfünfzig.
Hundertzweiundneunzig gab man während des Krieges jenen Opfern der Justiz, aus denen man weder Agitation noch Verrat noch Sabotage herausholen konnte.
Entweder besaß der Untersuchungsführer nicht die erforderlichen Willensqualitäten, war nicht auf der Höhe und nicht in der Lage, das modische Etikett für ein altmodisches Verbrechen anzukleben, oder der Widerstand der physischen Person war dem Untersuchungsführer lästig, und die Methode Nummer drei anwenden zu lassen konnte er sich nicht entschließen. Diese Welt der Untersuchung hat ihre Ebbe und Flut, ihre Moden, ihren untergründigen Kampf um Einfluss.
Das Urteil ist immer Ergebnis des Wirkens einer Reihe von oftmals äußeren Gründen.
Die Schaffenspsychologie ist hier noch nicht beschrieben, nicht einmal die Grundsteine sind gelegt zu dieser wichtigen Baustelle der Zeit.
Nach eben diesem Artikel hundertzweiundneunzig wurde mit fünfzehn Jahren Haftzeit auch der Minsker Bauingenieur Michail Iwanowitsch Nowikow an die Kolyma gebracht.
Ingenieur Nowikow war schwerer Hypertoniker mit ständigem hohen Blutdruck um die zweihundertvierzig in der oberen Ziffer des Riva-Rocci-Apparats .
Als chronischer Hypertoniker lebte Nowikow ständig in der Gefahr eines Schlaganfalls, eines Hirnschlags. Alle wussten das in Minsk wie in Magadan. An die Kolyma durften solche Kranken nicht gebracht werden – dazu war auch die medizinische Untersuchung da. Doch seit neunzehnhundertsiebenunddreißig waren durch alle medizinischen Einrichtungen der Gefängnisse, Durchgangslager und Lager – und für die Etappe Wladiwostok-Magadan wurde dieser Befehl zweimal bestätigt für Häftlinge der Sonderlager, für KRTD und überhaupt das Kontingent, das leben und vor allem sterben sollte an der Kolyma – alle Beschränkungen aufgrund von Invalidität und Alter aufgehoben.
Der Kolyma wurde angeboten, die Schlacke selbst wieder auszuwerfen, auf demselben bürokratischen Weg: Protokolle, Listen, Kommissionen, Etappen, tausend Visa.
Tatsächlich kam viel Schlacke zurück.
Man schickte nicht nur die Schwachen und Beinlosen, nicht nur die sechzigjährigen Alten in die Goldgruben, man schickte auch die Tuberkulose- und die Herzkranken.
Ein Hypertoniker erschien in so einer Reihe nicht als Kranker, sondern als gesunder rotgesichtiger Drückeberger, der nicht arbeiten will und das Brot des Staats isst. Frisst die Brotration ohne Gegenleistung.
So ein rotgesichtiger Drückeberger war in den Augen der Leitung im Sommer 1953 der Ingenieur Nowikow, Häftling der Transportverwaltung der Nordöstlichen Arbeitsbesserungslager im Abschnitt Baragon bei Ojmjakon.
Mit dem Riva-Rocci-Apparat weiß leider nicht jeder Mediziner an der Kolyma umzugehen, obwohl ja den Puls zählen und seinen Schlag fühlen der Feldscher wie der Sanitäter, wie der Arzt können müsste.
Riva-Rocci-Apparate hatte man an jeden Medizinabschnitt gebracht – zusammen mit Thermometern, Binden und Jod. Aber weder Thermometer noch Binden gab es an dem Punkt, den ich soeben als freier Feldscher übernommen hatte – meine erste Arbeit als Freier in zehn Jahren. Es gab nur den Riva-Rocci-Apparat; er war nicht kaputt wie die Thermometer. An der Kolyma ein kaputtes Thermometer abzuschreiben war ein Problem, darum hebt man alle Glasscherben bis zur Abschreibung, bis zum Protokoll auf, als wären es Relikte Pompeis, ein Splitter irgendeiner hethitischen Keramik.
Die Ärzte an der Kolyma waren es gewöhnt, nicht nur ohne Riva-Rocci-Apparat, sondern auch ohne Thermometer auszukommen. Das Thermometer gibt man selbst im Zentralkrankenhaus nur Schwerkranken, bei den anderen schätzt man das Fieber »nach dem Puls« –
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