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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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wenigstens eine Zeile, von Marinas Hand geschrieben, zu finden. Selbst wenn sie nicht an ihn war. Und er fand solche Briefe, zwei abgeschabte Briefe, und Schelgunow lernte diese Briefe auswendig.
    Die Generalstochter und Schauspielerin schreibt Briefe an einen Ganoven. In der Gaunersprache gibt es das Wort
chlestatsja
, d.h. prahlen, und dieses Wort der Gaunersprache stammt aus der großen Literatur.
Chlestatsja
bedeutet » Chlestakow spielen«, der König hatte etwas, womit er prahlen konnte: Dieser
frajer
ist ein Romanist. Zum Totlachen. Lieber Schura. So muss man Briefe schreiben, aber du alte Kanaille kriegst nicht mal zwei Worte zusammen … Der König las Soja Talitowa, der Prostituierten, Auszüge aus seinem eigenen Roman vor.
    »Ich habe keine Bildung.« – »Keine Bildung. Lernt, ihr Kreaturen, wie man lebt.«
    All das konnte sich Schelgunow, der im dunklen Moskauer Treppenaufgang stand, leicht vorstellen. Die Szene mit Cyrano, Christian und Roxane, gespielt im neunten Kreis der Hölle , praktisch auf dem Eis des Hohen Nordens. Schelgunow hatte den Ganoven geglaubt, und sie hatten dafür gesorgt, dass er seine Frau mit eigenen Händen umbrachte.
    Beide Briefe waren stockfleckig, aber die Tinte war nicht verblasst, das Papier nicht zu Staub zerfallen.
    Jeden Tag las Schelgunow diese Briefe. Wie sie ewig bewahren? Mit welchem Klebstoff die Sprünge, die Risse verkleistern in diesen dunklen Briefbögen, die einmal weiß waren? Bloß nicht mit Flüssigglas. Flüssigglas versengt, macht kaputt.
    Aber trotzdem – man kann die Briefe so kleben, dass sie ewig leben werden. Jeder Archivar kennt dieses Verfahren, besonders ein Archivar im Literaturmuseum. Man muss die Briefe zum Sprechen bringen – das ist alles.
    Das liebliche Frauengesicht wurde auf Glas gelegt neben einer russischen Ikone aus dem zwölften Jahrhundert, etwas oberhalb der Ikone – der Gottesmutter von den drei Händen . Das Frauengesicht, das Photo von Marina war hier vollkommen am Platz, übertraf die Ikone … Was unterscheidet Marina von der Gottesmutter, von einer Heiligen? Was? Warum sind so viele Frauen Heilige, Apostelgleiche, Großmärtyrerinnen, und Marina ist nur eine Schauspielerin, eine Schauspielerin, die den Kopf unter den Zug gelegt hat? Oder nimmt die orthodoxe Religion Selbstmörder nicht in den Engelsrang auf? Die Photographie verschwand unter Ikonen und war selbst eine Ikone.
    Manchmal wachte Schelgunow nachts auf und tastete, suchte, ohne Licht zu machen, auf dem Tisch nach dem Photo von Marina. Die im Lager erfrorenen Finger konnten die Ikone nicht von einem Photo unterscheiden, Holz nicht von Karton.
    Aber vielleicht war Schelgunow einfach betrunken. Schelgunow trank jeden Tag. Natürlich ist der Wodka – Verderben, Alkohol ein Gift und Antabus – ein Segen. Aber was tun, wenn auf dem Tisch Marinas Ikone liegt.

    »Genka, erinnerst du dich an den
frajer
, den Romanisten, den Schriftsteller? Hm? Oder hast du ihn längst vergessen?«, fragte der König, wenn die Zeit des Rückzugs in den Schlaf kam und alle Zeremonien verrichtet waren.
    »Wieso denn vergessen? Ich erinnere mich. Das war doch dieser loch , dieser Esel!« Und Genka wedelte mit den gespreizten Fingern über seinem rechten Ohr.
    1967

Die namenlose Katze
    Die Katze hatte es nicht geschafft, herauszuspringen, und der Fahrer Mischa fing sie im Flur. Mit einem alten Vorbohrer, einem kurzen stählernen Brecheisen, brach Mischa der Katze Wirbelsäule und Rippen. Er griff sie am Schwanz, öffnete mit dem Fuß die Tür und warf die Katze nach draußen in den Schnee, in die Nacht, in die fünfzig Grad Frost. Die Katze gehörte Krugljak, dem Parteisekretär des Krankenhauses. Krugljak belegte eine ganze Wohnung in einem zweistöckigen Haus in einer freien Siedlung und hielt im Zimmer über Mischa ein Ferkel. Der Putz an Mischas Decke war feucht geworden, aufgequollen und dunkel geworden, und gestern fiel er herunter, und der Stalldung rann von der Decke dem Fahrer auf den Kopf. Mischa wollte mit seinem Kollegen reden und ging zu ihm hinauf, aber Krugljak warf den Fahrer hinaus. Mischa war ein gutmütiger Mensch, aber die Kränkung war groß, und als die Katze Mischa in die Hände geriet …
    Oben, in Krugljaks Wohnung, war es still – auf das Quieken, auf das Wimmern, auf die Hilfeschreie der Katze kam niemand heraus. Und schrie denn die Katze auch um Hilfe? Die Katze glaubte nicht, dass die Menschen ihr beispringen könnten – ob Krugljak oder der Fahrer, ganz

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