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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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unterirdische Hölle, aus der die Menschen ab und zu zurückkehren, sie verschwinden nicht für immer. Weshalb kehren sie zurück? Das Herz dieser Menschen ist erfüllt mit ewiger Unruhe, mit dem ewigen Schrecken einer dunklen Welt, die keineswegs das Jenseits ist.
    Diese Welt ist realer als Homers Himmel.
    Schelgunow »setzte sich fest« im Durchgangslager in Wladiwostok – abgerissen, schmutzig, hungrig, ein vom Begleitposten halb totgeschlagener Arbeitsverweigerer. Er musste leben, aber hier gab es Schiffe, die, wie die Karren zu den Gasöfen von Auschwitz, seinesgleichen über das Meer fuhren, Dampfer um Dampfer, Etappe um Etappe. Am anderen Ufer, von dem niemand zurückkam, war Schelgunow im letzten Jahr schon gewesen, im Todestal beim Krankenhaus hatte er seinen Rücktransport aufs Festland abgewartet – ins Gold hatte man Schelgunows Knochen nicht nehmen wollen.
    Jetzt näherte sich die Gefahr wieder, immer deutlicher spürte Schelgunow die ganze Unsicherheit des Häftlingslebens. Und es gab keinen Ausweg aus dieser Unsicherheit, aus dieser Unverlässlichkeit.
    Das Durchgangslager ist eine riesige Siedlung, kreuz und quer durchschnitten von den regelmäßigen Quadraten der Zonen, umgeben von Stacheldraht und zu beschießen von hundert Wachtürmen, beleuchtet und durchleuchtet von tausend Scheinwerfern, die die schwachen Häftlingsaugen blenden.
    Die Pritschen in diesem riesigen Durchgangslager – dem Tor zur Kolyma – leerten sich mal unerwartet, mal füllten sie sich wieder mit erschöpften schmutzigen Menschen, neuen Etappen aus der Freiheit.
    Die Dampfer kamen zurück, das Durchgangslager rülpste eine neue Portion Menschen aus, leerte sich und füllte sich wieder.
    In der Zone, in der Schelgunow lebte, der größten Zone des Durchgangslagers, wurden alle Baracken geräumt außer der neunten. In der neunten wohnten die Ganoven. Dort amüsierte sich der König selbst – der Anführer. Die Aufseher zeigten sich dort nicht, die Lagerversorgung holte jeden Tag an der Vortreppe die Leichen derer ab, die sich mit dem König angelegt hatten.
    In diese Baracke schleppten die Köche aus der Küche ihre besten Gerichte und die besten Sachen – um die Klamotten aller Etappen wurde garantiert in der neunten, der Königs-Baracke, gespielt.
    Schelgunow, ein direkter Nachkomme der Schelgunows von »Land und Freiheit« , dessen Vater im freien Leben Akademiemitglied war und die Mutter Professorin, lebte seit seinen Kinderjahren mit Büchern und für die Bücher; als Bibliophiler und Bibliomane hatte er die gesamte russische Kultur mit der Muttermilch eingesogen. Das neunzehnte Jahrhundert, das goldene Zeitalter der Menschheit, hatte Schelgunow geprägt.
    Teile dein Wissen. Vertraue den Menschen, liebe die Menschen – das lehrte die große russische Literatur, und Schelgunow spürte in sich schon lange die Kräfte, der Gesellschaft das Ererbte zurückzugeben. Sich zu opfern – für jeden. Aufzustehen gegen das Unrecht, auch das kleinste, besonders, wenn das Unrecht in der Nähe war.
    Gefängnis und Verbannung waren die erste Antwort des Staates auf Schelgunows Versuche, so zu leben, wie ihn die Bücher gelehrt hatten, wie ihn das neunzehnte Jahrhundert gelehrt hatte.
    Schelgunow war erschüttert von der Niedertracht der Menschen, die ihn umgaben. Im Lager gab es keine Helden. Schelgunow wollte nicht glauben, dass das neunzehnte Jahrhundert ihn betrogen hatte. Die tiefe Enttäuschung von den Menschen während der Untersuchung, der Etappe und des Durchgangslagers wurde plötzlich abgelöst von der früheren Frische, der früheren Begeisterung. Schelgunow hatte gesucht und gefunden, was er wollte, das, wovon er träumte – lebendige Vorbilder. Er war einer Kraft begegnet, von der er früher viel gelesen hatte und an die zu glauben Schelgunow in Fleisch und Blut eingegangen war. Das war die Ganovenwelt, die Welt der Verbrecher.
    Die Leitung, die Schelgunows Nachbarn und Freunde und Schelgunow selbst trat, schlug und verachtete – fürchtete und verehrte die Kriminellen.
    Das war eine Welt, die sich dem Staat kühn entgegenstellte, eine Welt, der Schelgunow in seinem blinden, romantischen Drang nach dem Guten, dem Drang nach Rache helfen konnte …
    »Habt ihr hier keinen Romanisten?«
    Jemand zog sich andere Schuhe an, einen Fuß auf die Pritsche gestellt. An der Krawatte, an den Socken erkannte Schelgunow in einer Welt, in der viele Jahre lang nur Fußlappen existierten, zweifelsfrei – aus der neunten

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