Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Artikel achtundfünfzig nur Punkt zehn: »Agitation« – keine anderen Punkte.
Ich hatte ausgerechnet Artikel achtundfünfzig, Punkt zehn – im Krieg hatte man mich verurteilt für die Behauptung, Bunin sei ein russischer Klassiker. Aber ich war ja schon zwei, drei Mal verurteilt nach Artikeln, die für einen vollwertigen Lehrgangsteilnehmer nicht taugten. Doch den Versuch war es wert: In der Lagerregistratur herrschte nach den Aktionen des Jahres siebenunddreißig und auch nach dem Krieg ein solches Durcheinander, dass es wert war, das Leben aufs Spiel zu setzen.
Das Schicksal ist ein Bürokrat, ein Formalist. Man hat bemerkt, dass das über den Kopf des Verurteilten erhobene Henkersschwert genauso schwer anzuhalten ist wie die Hand des Gefängniswärters, der die Tür zur Freiheit aufschließt. Das Gelingen, das Roulette, Monte Carlo, das von Dostojewskij poetisierte Symbol des blinden Zufalls , erwiesen sich plötzlich als wissenschaftlich erkennbares Schema – als Gegenstand einer großen Wissenschaft. Der leidenschaftliche Wille, das »System« im Casino zu erkennen, hat es zu einem wissenschaftlichen, dem Studium zugänglichen gemacht.
Ist der Glaube an das Glück, an den Erfolg, an einen höchsten Grad dieses Erfolgs dem menschlichen Verstehen zugänglich? Und ist nicht der Instinkt, der blinde tierische Wille zur Wahl in etwas Größerem begründet als dem Zufall? »Solange es gelingt, muss man mit allem einverstanden sein«, sagte mir der Lagerkoch. Geht es um das Gelingen? Das Unglück ist nicht aufzuhalten. Aber auch das Glück ist nicht aufzuhalten. Vielmehr das, was die Häftlinge Glück nennen, Häftlingsglück.
Sich dem Schicksal anvertrauen bei günstigem Rückenwind und zum millionsten Mal die Fahrt der »Kon-Tiki« über die menschlichen Meere wiederholen?
Oder anders – dich durch eine Ritze des Käfigs drücken – kein Käfig ohne Ritzen! – und zurück, in die Dunkelheit gleiten. Oder dich in die Kiste zwängen, die ans Meer gebracht wird und in die du nicht gehörst, aber bis man das herausfindet, werden dich die bürokratischen Formalien retten.
All das ist der tausendste Teil der Gedanken, die mir damals in den Kopf hätten kommen können, aber nicht kamen.
Das Urteil war betäubend. Mein Lebendgewicht war schon in den für den Tod notwendigen Zustand gebracht. Untersuchung im dunklen Karzer, ohne Fenster und Licht, unter der Erde. Einen Monat bei einem Becher Wasser und einem Dreihunderter Schwarzbrot.
Übrigens hatte ich schon in schlimmeren Karzern gesessen. Die Transportaußenstelle in Kadyktschan war auf dem Gebiet einer Strafzone untergebracht. Strafzonen, Spezialzonen, die Auschwitz-Lager und Goldbergwerke der Kolyma wandern von Ort zu Ort, sie befinden sich in ewiger bedrohlicher Bewegung und hinterlassen Massengräber und Karzer. In der Transportaußenstelle Kadyktschan war der Karzer in den Fels gehauen, in den Dauerfrostboden. Man brauchte dort nur einmal zu übernachten, um zu sterben, sich zu Tode zu erkälten. Acht Kilogramm Holz retten nicht in einem solchen Karzer. Diesen Karzer nutzten die Straßenbauer. Die Straßenbauer hatten eine eigene Verwaltung, eigene begleitpostenfreie Gesetze – eine eigene Praxis. Nach den Straßenbauern ging der Karzer auf das Lager Arkagala über, und der Chef des Abschnitts Kadyktschan, Ingenieur Kisseljow, erhielt auch das Recht, »bis zum Morgen« einzusperren. Der erste Versuch misslang: zwei Männer, zwei Lungenentzündungen, zwei Tode.
Der dritte war ich. »Ausziehen bis auf die Wäsche und in den Karzer bis zum Morgen.« Aber ich war erfahrener als die beiden. Der Ofen, den zu heizen sonderbar war, denn die Eiswände schmolzen und froren dann wieder, Eis über dem Kopf und unter den Füßen. Der Fußboden aus Rundhölzern war längst verbrannt. Ich lief die ganze Nacht auf und ab, den Kopf in die Weste gesteckt, und kam mit zwei erfrorenen Zehen davon.
Die blass gewordene Haut, von der Junisonne in zwei, drei Stunden braun verbrannt. Ich stand im Juni vor Gericht – ein winziges Zimmer in der Siedlung Jagodnyj, in dem alle aneinandergedrängt saßen – die Leute vom Tribunal und die Begleitposten, Beschuldigter und Zeugen – in dem es schwer war, zu verstehen, wer der Angeklagte ist und wer der Richter.
Wie sich zeigte, brachte das Urteil statt des Todes das Leben. Mein Verbrechen wurde nach einem leichteren Artikel bestraft als dem, mit dem ich an die Kolyma gekommen war.
Meine Knochen schmerzten, die offenen
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