Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
eine persönliche Notiz Lenins auf den Tisch. Sie wurde Anfang der Sechziger in der Militärhistorischen Zeitschrift veröffentlicht, vielleicht ein wenig früher. Hier der ungefähre Text: »Lieber Michail Stepanowitsch. Sie werden auf einen republikswichtigen Posten ernannt. Ich bitte, keine Schwäche zu zeigen. Lenin.«
Später arbeitete Kedrow einige Jahre in der WTschK – im MWD, ständig entlarvte er irgendjemanden, denunzierte, verfolgte, überprüfte und vernichtete Feinde der Revolution. In Jeshow sah Kedrow den am stärksten leninistischen Volkskommissar – einen stalinistischen Volkskommissar. Aber Berija, der Jeshow ablöste, gefiel Kedrow nicht. Kedrow organisierte die Bespitzelung Berijas … Er beschloss, die Ergebnisse der Beobachtung Stalin zu überreichen. Zu jener Zeit war Kedrows Sohn herangewachsen, Igor, ein Mitarbeiter des MWD. Sie verabredeten sich so, dass der Sohn den Bericht an seine Vorgesetzten übergeben sollte – und falls er verhaftet würde, würde der Vater Stalin mitteilen, dass Berija ein Feind ist. Kedrows Verbindungskanäle dorthin waren sehr verlässlich.
Der Sohn übergab den Bericht offiziell, wurde verhaftet und erschossen. Der Vater schrieb einen Brief an Stalin, wurde verhaftet und einem Verhör unterzogen, das Berija persönlich führte. Berija brach Kedrow mit einer Eisenstange das Rückgrat.
Stalin hatte Berija einfach Kedrows Brief gezeigt.
Kedrow schrieb einen zweiten Brief an Stalin über seinen gebrochenen Rücken und die Verhöre, die Berija führte.
Danach erschoss Berija Kedrow in der Zelle. Auch diesen Brief hatte Stalin Berija gezeigt. Zusammen mit dem ersten wurde er nach Stalins Tod in dessen persönlichem Safe gefunden.
Von beiden Briefen, ihrem Inhalt und den Umständen dieses Briefwechsels »auf höchster Ebene« berichtete Chruschtschow ganz offen auf dem XX. Parteitag. All das wiederholte Kedrows Biograph in seinem Buch über ihn.
Ob sich Kedrow vor seinem Tod an die Geiseln von Wologda erinnerte, die er erschossen hat, weiß ich nicht.
Unser Chemielehrer Sokolow wurde als eine dieser Geiseln erschossen. Und darum habe ich niemals Chemie gelernt. Ich kannte nicht die Wissenschaft des Herrn Bojtschenko, der keine Zeit für Konsultationen fand.
Also zurückfahren, ins Bergwerk, und dann eben kein Mensch sein. Allmählich sammelte sich meine alte Erbitterung, sie pochte in den Schläfen, und ich hatte schon vor nichts mehr Angst. Etwas sollte passieren. Eine Periode des Erfolgs ist so wenig abzuwenden wie eine Periode des Unglücks – das weiß jeder Kartenspieler, jeder Spieler von Terz, Rams und Siebzehn und Vier … Der Einsatz war sehr hoch.
Die Kameraden um ein Lehrbuch bitten? Es gab keine Lehrbücher. Sie bitten, wenigstens irgendetwas aus der Chemie zu erzählen. Aber habe ich denn das Recht, die Zeit meiner Kameraden zu beanspruchen? Ein Fluch ist die einzige Antwort, die ich bekommen kann.
Blieb nur, sich zu sammeln, sich anzuspannen – und abzuwarten.
Wie oft sind Ereignisse höherer Ordnung gebieterisch, machtvoll in mein Leben eingetreten und haben diktiert, gerettet, zurückgewiesen und mir Wunden beigebracht, unverdiente, unerwartete … Ein wichtiges Motiv meines Lebens war mit diesem Examen verbunden, mit dieser Erschießung vor einem Vierteljahrhundert.
Ich wurde als einer der ersten geprüft. Ein lächelnder Bojtschenko, der mir in höchstem Maße wohlgesonnen war. Tatsächlich – vor ihm stand wenn auch kein Mitglied der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, kein Professor der Chemie, so doch ein offenbar gebildeter Mann, ein Journalist, zwei Mal eine Fünf. Allerdings ärmlich gekleidet, auch abgemagert, ein Drückeberger wahrscheinlich, ein Simulant. Bojtschenko war noch nicht weiter gefahren als bis Kilometer 23 von Magadan, vom Meeresspiegel. Das war sein erster Winter an der Kolyma. Was für ein Faulenzer auch vor ihm stand, er musste ihm helfen.
Das Buch der Protokolle – Fragen und Anworten – lag vor Bojtschenko.
»Nun, mit Ihnen, so hoffe ich, werden wir uns nicht aufhalten. Schreiben Sie die Formel für Gips.«
»Ich weiß sie nicht.«
Bojtschenko erstarrte. Vor ihm stand ein Frechling, der nicht lernen wollte.
»Und die Formel für Kalk?«
»Ich weiß sie auch nicht.«
Wir gerieten beide in Raserei. Als erster fing sich Bojtschenko. Hinter dieser Antwort verbargen sich irgendwelche Geheimnisse, die Bojtschenko nicht verstehen wollte und konnte, aber es war möglich, dass man diese Geheimnisse
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