Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Geschwüre wollten nicht heilen. Und das Wichtigste, ich wusste nicht, ob ich lernen konnte. Vielleicht sind die Narbenfurchen in meinem Hirn, die mir Hunger, Schläge und Schubser beigebracht haben – für immer, und ich bin bis an mein Lebensende dazu verdammt, nur über dem Lagernapf zu knurren wie ein Tier – und nur an Lagerdinge zu denken. Aber das Risiko war es wert – so viele Zellen hatte ich noch in meinem Hirn, um diese Entscheidung zu treffen. Die animalische Entscheidung zu einem animalischen Sprung, um ins Reich des Menschen zu gelangen.
Und wenn sie mich verprügeln und gleich aus dem Lehrgang werfen – zurück in die Grube, zur verhassten Schaufel, zur Hacke –, na und! Dann bleibe ich einfach ein Tier – und Schluss.
All das war mein Geheimnis, ein Geheimnis, das ganz einfach zu bewahren war – ich brauchte nur nicht daran zu denken. Und so machte ich es.
Das Fahrzeug war längst abgefahren von der glatten zentralen Trasse, der Todesstraße, es hüpfte durch Schlaglöcher, Schlaglöcher, Schlaglöcher und warf mich an die Seitenwand. Wohin brachte mich das Fahrzeug? Mir war ganz gleich, wohin – schlechter wird es nicht sein als das, was hinter mir lag in diesen neun Lagerjahren der Wanderschaft zwischen Grube und Krankenhaus. Das Rad des Lagerfahrzeugs zog mich zum Leben, und gierig wollte ich glauben, dass das Rad niemals stehenbleibt.
Ja, man nimmt mich in die Lagerabteilung auf, bringt mich in die Zone. Der Diensthabende hat das Paket geöffnet und brüllt mich nicht an: »Geh zur Seite! Warte!« Das Badehaus, in dem ich die Wäsche abwerfe, ein Geschenk des Arztes – ich hatte ja nicht immer Wäsche gehabt auf meinen Wanderungen durch die Bergwerke. Ein Abschiedsgeschenk. Neue Wäsche. Hier, im Krankenhauslager, gelten andere Regeln – hier ist die Wäsche »unpersönlich«, nach der alten Lagermode. Statt der festen Nesselwäsche gibt man mir irgendwelche geflickten Fetzen. Das ist ganz gleich. Von mir aus Fetzen. Von mir aus unpersönliche Wäsche. Aber ich freue mich nicht besonders lange über die Wäsche. Wenn »ja«, dann werde ich mich noch beim nächsten Mal im Badehaus waschen können, und wenn »nein«, dann lohnt es auch nicht, sich zu waschen. Man führt uns in die Baracken, Doppelpritschen-Baracken Typus Eisenbahn. Also ja, ja, ja … Aber alles liegt noch vor mir. Alles versinkt in einem Meer von Gerüchten. Achtundfünfzig sechs wird nicht genommen. Nach dieser Ankündigung wird einer von uns, Lunew, weggefahren, und er verschwindet für immer aus meinem Leben.
Achtundfünfzig acht, eins – a! – wird nicht genommen. KRTD – auf keinen Fall. Das ist schlimmer als jeder Vaterlandsverrat.
Und KRA ? KRA – das ist dasselbe wie achtundfünfzig, Punkt zehn. KRA wird genommen.
Und ASA ? Wer hat ASA? »Ich«, sagte ein Mann mit blassem und schmutzigem Gefängnisgesicht – wir waren zusammen in dem Fahrzeug durchgerüttelt worden.
ASA – das ist dasselbe wie KRA. Und KRD ? KRD – das ist natürlich nicht KRTD, aber auch nicht KRA. In den Lehrgang wird KRD nicht aufgenommen.
Am besten reiner achtundfünfzig, Punkt zehn ohne jede Ersetzung durch Kürzel.
Achtundfünfzig, Punkt sieben – Sabotage. Wird nicht genommen. Achtundfünfzig, acht. Terror. Wird nicht genommen.
Ich habe achtundfünfzig. Punkt zehn. Ich bleibe in der Baracke.
Die Aufnahmekommission für den Feldscherlehrgang beim Zentralen Lagerkrankenhaus ließ mich zu den Prüfungen zu. Prüfungen? Ja, Examina. Das Aufnahmeexamen. Was habt ihr denn gedacht? Der Lehrgang ist eine ernsthafte Einrichtung, die Urkunden ausgibt. Der Lehrgang muss wissen, mit wem er es zu tun hat.
Aber erschreckt nicht. Zu jedem Fach, russische Sprache – ein schriftliches, Mathematik – ein schriftliches und Chemie – ein mündliches Examen. Drei Fächer, drei Testate. Mit allen künftigen Teilnehmern werden die Krankenhausärzte, die Dozenten des Lehrgangs, vor den Examina Gespräche führen. Ein Diktat. Neun Jahre hat sich meine Hand nicht aufgebogen, für immer gekrümmt um den Stiel der Schaufel – sie biegt sich nur unter Knirschen auf, nur mit Schmerzen, nur im Badehaus, aufgeweicht im warmen Wasser.
Ich bog die Finger mit der linken Hand auf, legte den Federhalter hinein, tauchte die Feder ins standsichere Tintenfass und schrieb mit zitternder Hand, von kaltem Schweiß bedeckt, dieses verdammte Diktat. Mein Gott!
Im Jahr sechsundzwanzig – vor zwanzig Jahren – hatte ich das letzte Mal ein Examen in
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