Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
nicht wieder begegnet.
Der Älteste wurde weggefahren, und zum letzten Mal sah ich an seinem Hals meinen Schal, der mir solche Qualen und Sorgen bereitet hatte. Die Läuse waren natürlich verdampft, vernichtet.
Also werden die Aufseher im Winter die Repatrianten mit Schwung nach unten schleudern und dort an den Schlitten binden und in die Grube zur Arbeit schleppen. So wie sie uns geworfen haben …
Es war Anfang September, es begann der Winter an der Kolyma …
Bei den Repatrianten wurde eine Durchsuchung gemacht und alle zum Zittern gebracht. Die erfahrenen Lageraufseher holten ans Licht, was »in Freiheit« durch Dutzende Durchsuchungen gegangen war, von Italien an – ein kleiner Zettel, ein Dokument, ein Manifest von Wlassow! Aber diese Nachricht machte nicht den geringsten Eindruck. Von Wlassow, von seiner Russischen Befreiungsarmee hatten wir nichts gehört, und jetzt plötzlich ein Manifest.
»Und was werden sie dafür bekommen?«, fragte einer der Männer, die am Ofen Brot trockneten.
»Gar nichts werden sie bekommen.«
Wie viele von ihnen Offiziere waren, weiß ich nicht. Wlassow-Offiziere wurden erschossen; vielleicht waren hier nur Gemeine, wenn man sich an einige Eigenschaften der russischen Psychologie und Natur erinnert.
Etwa zwei Jahre nach diesen Ereignissen ergab es sich, dass ich als Feldscher in der Japanerzone arbeitete. Dort wurde in jeder Funktion – Barackendienst, Brigadier, Sanitäter – unbedingt ein Offizier eingesetzt, und das galt als selbstverständlich, auch wenn die gefangenen japanischen Offiziere in der Krankenhauszone keine Uniform trugen.
Bei uns aber entlarvten und enthüllten die Repatrianten nach längst bekannten Mustern.
»Sie arbeiten in der Sanitätsabteilung?«
»Ja, in der Sanitätsabteilung.«
»Malinowskij wurde zum Sanitäter bestimmt. Erlauben Sie, Ihnen vorzutragen, dass Malinowskij mit den Deutschen zusammengearbeitet hat, er hat in einer Kanzlei gearbeitet, in Bologna. Ich habe es selbst gesehen.«
»Das ist nicht meine Sache.«
»Und wessen sonst? An wen muss ich mich wenden?«
»Ich weiß nicht.«
»Sonderbar. Und braucht jemand ein Seidenhemd?«
»Ich weiß nicht.«
Der erfreute Barackendienst kam dazu, er fuhr, fuhr, fuhr ab aus der Spezialzone.
»Na, reingefallen, mein Lieber? In italienischen Uniformen in den Dauerfrost. Das geschieht euch recht. Dient nicht bei den Deutschen!«
Und da sagte der Neue leise:
»Wir haben wenigstens Italien gesehen. Und ihr?«
Und der Barackendienst machte ein finsteres Gesicht und war still. Die Kolyma hatte die Repatrianten nicht erschreckt.
»Uns gefällt hier im großen Ganzen alles. Man kann leben. Ich verstehe nur nicht, warum eure Leute in der Kantine nie das Brot essen – diese zweihunderter oder dreihunderter – je nachdem, wie jeder gearbeitet hat. Hier gibt es doch Prozente?«
»Ja, hier gibt es Prozente.«
»Alle essen Suppe und Grütze ohne Brot, und das Brot tragen sie aus irgendeinem Grund in die Baracke.«
Der Repatriant hatte zufällig die wichtigste Frage des Alltags an der Kolyma berührt.
Aber ich mochte nicht antworten:
»Noch zwei Wochen, und jeder von euch wird dasselbe tun.«
<1967>
Das Examen
Ich hatte nur überlebt und die Hölle der Kolyma verlassen, weil ich Arzt geworden war, den Feldscherlehrgang im Lager abgeschlossen, das Staatsexamen abgelegt hatte. Aber noch davor, zehn Monate früher, hatte es ein anderes Examen gegeben – die Aufnahme-, die wichtigere Prüfung, mit einem besonderen Sinn – für mich wie auch für mein Schicksal. Die Zerreißprobe war bestanden. Der Napf mit Lagerkohlsuppe war wohl eine Art Ambrosia: In der Mittelschule hatte ich keine Kenntnisse über die Speise der Götter bekommen. Aus denselben Gründen, aus denen ich die chemische Formel für Gips nicht kannte.
Die Welt, in der Götter und Menschen leben – ist eine gemeinsame Welt. Es gibt Ereignisse, die für Menschen wie Götter gleichermaßen bedrohlich sind. Homers Formeln sind sehr richtig. Aber zu Homers Zeiten gab es keine kriminelle Unterwelt, keine Welt der Konzentrationslager. Plutos Unterwelt erscheint als Paradies, als Himmel im Vergleich zu dieser Welt. Aber auch diese unsere Welt – liegt nur eine Etage unter der Plutos; auch von hier erheben sich die Menschen in den Himmel, und die Götter kommen manchmal herab, steigen die Leiter herunter – weiter als bis in die Hölle.
In diesen Lehrgang sollten auf Befehl des Staates »
bytowiki
« aufgenommen werden, und von
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