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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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russischer Sprache abgelegt, bei der Bewerbung an der Moskauer Universität. Beim »freien« Thema hatte ich zweihundert Prozent »gemacht« – und war von den mündlichen Prüfungen befreit worden. Hier gab es keine mündlichen Prüfungen. Dann erst recht! Dann erst recht – Achtung: Turgenjew oder Babajewskij ? Das war mir entschieden gleich. Ein leichter Text … Ich prüfte die Kommas und Punkte. Nach dem Wort »Mastodont« ein Semikolon. Offensichtlich Turgenjew. Bei Babajewskij kann es keine Mastodonte geben. Und auch kein Semikolon.
    »Ich wollte einen Text von Dostojewskij oder Tolstoj geben, aber ich habe Angst bekommen, dass man mir konterrevolutionäre Propaganda vorwirft«, erzählte mir später der Prüfer, der Feldscher Borskij. Die Prüfungen in russischer Sprache abzunehmen weigerten sich einträchtig sämtliche Professoren, sämtliche Lehrer, die sich nicht auf ihre Kenntnisse verließen. Am nächsten Tag die Antwort. Eine Fünf . Die einzige Fünf: Die Bilanz des Diktats war jämmerlich.
    Das Gespräch über Mathematik versetzte mich in Angst. Die kleinen Aufgaben, die zu lösen waren, wurden gelöst wie eine Erleuchtung, eine Eingebung, und riefen einen schrecklichen Kopfschmerz hervor. Und waren trotzdem gelöst.
    Diese vorbereitenden Gespräche, die mir anfangs Angst gemacht hatten, hatten mich beruhigt. Und ich wartete gierig auf das letzte Examen, vielmehr das letzte Gespräch – über Chemie. Chemie konnte ich nicht, aber ich dachte, die Kameraden werden erzählen. Aber niemand übte mit jemand anderem, jeder wiederholte für sich. Den anderen zu helfen ist im Lager nicht üblich, und ich war nicht gekränkt, sondern erwartete einfach mein Schicksal und zählte auf das Gespräch mit dem Dozenten. Chemie las auf dem Lehrgang das Mitglied der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften Bojtschenko – Haftzeit fünfundzwanzig plus fünf, und Bojtschenko nahm auch die Prüfungen ab.
    Am Ende des Tages, als die Examina in Chemie angekündigt wurden, sagte man uns, dass Bojtschenko keinerlei vorbereitende Gespräche führen wird. Er hält sie für unnötig. Er wird sich beim Examen orientieren.
    Für mich war das eine Katastrophe. Ich hatte niemals Chemie gelernt. Unser Chemielehrer in der Mittelschule, Sokolow, war im Bürgerkrieg erschossen worden. Ich lag lange da in dieser Winternacht in der Baracke der Kursteilnehmer und dachte an Wologda im Bürgerkrieg. Über mir lag Suworow – zum Examen angereist aus einer ebenso fernen Bergwerksverwaltung wie ich, und an Bettnässen leidend. Ich war zu faul, zu fluchen. Ich fürchtete, dass er mir anbietet, die Plätze zu tauschen – und dann wäre er es gewesen, der sich über seinen Nachbarn von oben beschwert. Ich wandte einfach das Gesicht ab von diesen übelriechenden Tropfen.
    Ich bin in Wologda geboren und aufgewachsen. Diese nördliche Stadt ist eine ungewöhnliche Stadt. Hier hat sich im Lauf der Jahrhunderte die zaristische Verbannung angelagert – Protestierende, Rebellen, unterschiedliche Kritiker haben im Laufe vieler Generationen hier ein besonderes ethisches Klima geschaffen, von höherem Niveau als in jeder anderen russischen Stadt. Hier waren die moralischen Ansprüche, die kulturellen Ansprüche erheblich höher. Die Jugend drängte hier früher zu den lebendigen Vorbildern an Opferbereitschaft und Selbsthingabe.
    Und immer dachte ich mit Erstaunen daran, dass Wologda die einzige Stadt in Russland war, in der es nie einen einzigen Aufruhr gegen die Sowjetmacht gegeben hat. Solche Aufruhre erschütterten den gesamten Norden: Murmansk, Archangelsk, Jaroslawl, Kotlas. Die nördlichen Ränder brannten im Aufruhr – bis nach Tschukotka, bis nach Ola, ganz zu schweigen vom Süden, wo jede Stadt nicht nur einmal einen Machtwechsel erlebte.
    Und nur Wologda, das verschneite Wologda, das Verbannten-Wologda – schwieg. Ich wusste warum … Dafür gab es eine Erklärung.
    1918 war der Chef der Nordfront M.S. Kedrow nach Wologda gekommen. Seine erste Verfügung zur Befestigung der Front und des Hinterlandes war die Erschießung von Geiseln. Zweihundert Mann wurden erschossen in Wologda, einer Stadt mit sechzehntausend Einwohnern. Kotlas, Archangelsk – zählen noch einmal gesondert.
    Kedrow war jener Schigaljow , den Dostojewskij vorhergesagt hat.
    Die Aktion war derart ungewöhnlich selbst für jene blutigen Zeiten, dass Moskau von Kedrow Erklärungen verlangte. Kedrow zuckte nicht mit der Wimper. Er legte nicht mehr und nicht weniger als

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