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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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beim Aufräumen einer neuen Baracke – den Müll verbrennen, und den Rest unter die Erde, in den Keller, in den Dauerfrostboden.
    Ich kannte Gussew. Vor etwa zwei Jahren waren wir uns im Bergwerk begegnet, und eben Gussew hatte geholfen, mein gestohlenes Päckchen wiederzufinden, hatte gezeigt, wen man schlagen muss, und er wurde von der ganzen Baracke geschlagen, und das Päckchen fand sich. Ich gab damals Gussew ein Stück Zucker, eine Handvoll Kompott – nicht alles musste ich ja abgeben für das Auffinden, für die Denunziation. Gussew kann ich mich anvertrauen.
    Ich hatte einen Ausweg gefunden – mir den Arm zu brechen. Mit einem kurzen Brecheisen schlug ich auf meinen linken Arm, aber außer blauen Flecken kam nichts dabei heraus. Entweder hatte ich nicht die Kraft, einen menschlichen Arm zu brechen, oder irgendein innerer Wächter ließ mich nicht richtig ausholen. Sollte Gussew ausholen.
    Gussew weigerte sich.
    »Ich könnte dich denunzieren. Nach dem Gesetz werden Selbstverstümmler entlarvt, und du würdest drei Jahre Zuschlag kriegen. Das tue ich nicht. Ich erinnere mich an das Kompott. Aber das Brecheisen in die Hand zu nehmen bitte mich nicht, das werde ich nicht tun.«
    »Warum?«
    »Weil du dem Fahnder sagen wirst, sobald sie dich schlagen, dass ich es war.«
    »Das sage ich nicht.«
    »Das Gespräch ist beendet.«
    Ich musste eine Arbeit finden, die leichter war als leicht, und ich bat Doktor Jampolskij, mich zu sich zum Bau des Krankenhauses zu holen. Jampolskij hasste mich, aber er wusste, dass ich früher als Sanitäter gearbeitet hatte.
    Ich erwies mich als ungeeigneter Arbeiter.
    »Wieso«, sagte Jampolskij und kratzte sein assyrisches Bärtchen, »willst du nicht arbeiten.«
    »Ich kann nicht.«
    »Du sagst ›ich kann nicht‹ zu mir, dem Arzt.«
    »Sie sind ja kein Arzt«, wollte ich sagen, denn ich wusste, wer Jampolskij war. Aber »wenn du es nicht glaubst, nimms als Märchen«. Im Lager ist jeder – ob Häftling oder Freier, ob Arbeiter oder Chef, ganz gleich – der, für den er sich ausgibt … Damit rechnet man sowohl formal als auch ganz real.
    Natürlich, Doktor Jampolskij ist der Chef der Sanitätsabteilung, und ich bin Arbeiter, Insasse der Strafabteilung, der Spezialzone.
    »Jetzt habe ich dich verstanden«, sagte der Doktor boshaft. »Ich bringe dir bei, zu leben.«
    Ich schwieg. Wie viele Leute haben mich in meinem Leben leben gelehrt.
    »Morgen werde ich es dir zeigen. Morgen erfährst du von mir …« Aber morgen kam nie.
    In der Nacht, bachaufwärts durchbrechend, erreichten unsere Stadt auf dem Berg zwei Fahrzeuge, zwei Lastwagen. Brummend und Gas gebend krochen sie bis ans Tor der Zone und wurden entladen.
    In den Lastwagen waren Leute in einer ausländischen schönen Uniform.
    Das waren Repatrianten. Aus Italien, Arbeitseinheiten aus Italien. Wlassow-Leute? Nein. Übrigens klang »Wlassow-Leute« für uns, die alten, von der Welt abgeschnittenen Kolymabewohner, allzu unklar, und für die Neulinge allzu nah und lebendig. Ein Schutzreflex sagte ihnen: Schweigen! Und uns verbot die Ethik der Kolyma, sie zu befragen.
    In der Spezialzone, im Bergwerk Dshelgala wurde schon lange gemunkelt, dass Repatrianten hierher gebracht werden. Ohne Haftstrafe. Die Urteile wird man nachträglich herbringen, später. Aber die Menschen waren lebendig, lebendiger als die
dochodjagi
der Kolyma.
    Für die Repatrianten war das das Ende des Wegs, der in Italien, auf den Meetings begonnen hatte. Die Heimat ruft euch, die Heimat verzeiht. Von der russischen Grenze an wurden bei den Waggons Begleitposten aufgestellt. Die Repatrianten kamen direkt an die Kolyma, um mich von Doktor Jampolskij zu trennen, mich vor der Spezialzone zu retten.
    Nichts als ihre Seidenwäsche und die schönen neuen ausländischen Militäruniformen war den Repatrianten geblieben. Die goldenen Uhren, die Anzüge und Hemden hatten die Repatrianten unterwegs gegen Brot getauscht – auch bei mir war das so gewesen, der Weg war lang, und ich kannte diesen Weg gut. Von Moskau bis Wladiwostok transportiert man eine Etappe fünfundvierzig Tage. Dann der Dampfer Wladiwostok–Magadan fünf Tage, dann die endlosen Tage im Durchgangslager, und das Ende des Weges – Dshelgala.
    In den Fahrzeugen, die die Repatrianten gebracht hatten, wurden in die Verwaltung – ins Ungewisse – fünfzig Häftlinge aus dem Speziallager geschickt. Ich war nicht auf diesen Listen, aber Doktor Jampolskij stand darauf, und er ist mir in meinem Leben

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