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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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auch die Wachtürme, aber die Kantine war noch dieselbe, in der zu meiner Zeit, vor zwei Jahren, der ehemalige Minister Kriwizkij und der ehemalige Journalist Saslawskij sich vor den Augen aller Brigaden mit einer schrecklichen Lagerzerstreuung amüsierten. Sie legten ein Brot hin, ließen eine Dreihunderter-Ration ohne Aufsicht auf dem Tisch zurück, als herrenlos, als Ration eines Dummkopfs, der sein Brot hat »liegenlassen«, und irgendein
dochodjaga
, halbverrückt vor Hunger, stürzte sich auf diese Ration, schnappte sie vom Tisch, trug sie in eine dunkle Ecke und versuchte, mit den Skorbut-Zähnen, die auf dem Brot Blutspuren hinterließen, dieses Schwarzbrot zu verschlingen. Aber der ehemalige Minister – er war auch ehemaliger Arzt – wusste, dass der Hungrige das Brot nicht in einem Moment verschlingt, er hat zu wenig Zähne, und er ließ das Schauspiel sich entwickeln, damit kein Weg mehr zurück führte, damit die Beweise überzeugender wären.
    Eine Gruppe vertierter Arbeiter stürzte sich auf den »geköderten« Dieb. Jeder hielt es für seine Pflicht, ihn für das Verbrechen zu schlagen, zu strafen, und wenn auch die Schläge der
dochodjagi
keine Knochen brechen konnten, schlugen sie ihm doch die Seele heraus.
    Das ist eine durchaus menschliche Herzlosigkeit. Ein Zug, der zeigt, wie weit sich der Mensch vom Tier entfernt hat.
    Der verprügelte, blutende Dieb und Pechvogel verkroch sich in eine Ecke der Baracke, und der ehemalige Minister, der Vertreter des Brigadiers, hielt vor der Brigade dröhnende Reden über den Schaden des Diebstahls und die Heiligkeit der Gefängnisration.
    All das lebte vor meinen Augen, und die essenden
dochodjagi
betrachtend, die ihre Näpfe mit einer klassischen, geschickten Bewegung der Zunge ausleckten, und den eigenen Napf genauso geschickt ausleckend, dachte ich: »Bald wird auf dem Tisch die Brot-Lockspeise erscheinen, der Brot-Köder. Wahrscheinlich sind sie schon da, der ehemalige Minister und der ehemalige Journalist, die Spitzel, falschen Zeugen und Anstifter von Verfahren.« Das »Köder«-Spiel war sehr gängig in der Spezialzone zu meiner Zeit.
    Irgendwie erinnerte diese Herzlosigkeit an die Romane der Ganoven mit den hungrigen Prostituierten (und waren sie denn Prostituierte?), in denen als »Honorar« eine Brotration dient oder vielmehr, so die Abmachung, soviel von dieser Brotration, wie die Frau essen kann, während sie zusammenliegen. Alles, was sie nicht essen konnte, nahm der Ganove ihr ab und trug es wieder fort.
    »Ich lasse ja die Ration vorher im Schnee gefrieren und stecke sie ihr in den Mund – viel von dem Gefrorenen nagt sie nicht ab … Dann gehe ich wieder, und die Ration ist noch heil.«
    Diese Herzlosigkeit der Ganovenliebe hat nichts Menschliches. Ein Mensch kann sich solche Zerstreuungen nicht ausdenken, das kann nur ein Ganove.
    Tag um Tag bewegte ich mich auf den Tod zu und erwartete nichts.
    Noch immer strengte ich mich an und kroch aus dem Zonentor hinaus, um zur Arbeit zu gehen. Nur keine Arbeitsverweigerung. Für drei Verweigerungen – Erschießung. So war es im Jahr achtunddreißig. Jetzt hatten wir das Jahr fünfundvierzig, Herbst fünfundvierzig. Die Gesetze waren die alten, besonders für die Spezialzonen.
    Mich warfen die Aufseher noch nicht den Berg hinab. Das Handzeichen des Begleitpostens abwartend, stürzte ich mich an den Rand des Eisbergs und rutschte hinunter, gebremst von Zweigen, Felsvorsprüngen und Eisbrocken. Ich schaffte es, mich in die Reihe zu stellen und auszuschreiten unter den Verwünschungen der ganzen Brigade, weil ich schlecht ausschritt; übrigens, kaum schlechter, kaum langsamer als die anderen. Aber eben dieser unwesentliche Kraftunterschied machte mich zum Gegenstand der allgemeinen Erbitterung, des allgemeinen Hasses. Die Kameraden, so scheint es, hassten mich mehr als der Begleitposten.
    Mit den
burki
über den Schnee schlurfend, bewegte ich mich zum Arbeitsplatz, das Pferd zog im Schlitten das nächste Opfer des Hungers und der Schläge an uns vorbei. Wir machten dem Pferd Platz und krochen in dieselbe Richtung – zum Beginn des Arbeitstags. An das Ende des Arbeitstags dachte niemand. Das Ende der Arbeit kam von selbst, und irgendwie war nicht wichtig, kommt dieser neue Abend, eine neue Nacht, ein neuer Tag – oder nicht.
    Die Arbeit war von Tag zu Tag schwerer, und ich spürte, dass besondere Maßnahmen nötig waren.
    »Gussew. Gussew! Gussew wird mir helfen.«
    Seit gestern war Gussew mein Partner

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